Der Zauberberg
rite, nicht als gesund, aber mit halber Billigung entlassen eben doch, auf Grund und in Anerkennung seiner Standhaftigkeit. Er würde hinunterfahren, mit der Schmalspurbahn in die Tiefe nach Landquart, nach Romanshorn, dann über den weiten, abgründigen See, über den im Gedichte der Reiter ritt, und durch ganz Deutschland nach Hause. Er würde dort leben, in der Welt des Flachlandes, unter lauter Menschen, die keine Ahnung hatten, wie man leben mußte, die nichts wußten vom Thermometer, von der Kunst des Sicheinwickelns, vom Pelzsack, vom dreimaligen Lustwandel, von … es war schwer zu sagen, schwer aufzuzählen, wovon alles sie drunten nichts wußten, aber die Vorstellung, daß Joachim, nachdem er länger als anderthalb Jahre hier oben verbracht, unter den Unwissenden leben sollte, – diese Vorstellung, die nur Joachim betraf, und nur ganz von fern und versuchsweise auch ihn, Hans Castorp, – verwirrte ihn so, daß er die Augen schloß und eine abwehrende Handbewegung machte. »Unmöglich, unmöglich«, murmelte er.
Da es denn aber unmöglich war, so würde er also allein und {634} ohne Joachim hier oben weiter leben? Ja. Wie lange? Bis Behrens ihn als geheilt entließ, und zwar im Ernst, nicht so wie heute. Aber erstens war das ein Zeitpunkt, zu dessen Bestimmung man nur, wie Joachim einst bei irgendeiner Gelegenheit, in die Luft hinein die Gebärde des Unabsehbaren machen konnte, und zweitens: würde das Unmögliche dann möglicher geworden sein? Im Gegenteil eher. Und soviel war loyalerweise zuzugeben, daß eine Hand ihm geboten war, jetzt, wo das Unmögliche vielleicht noch nicht ganz so unmöglich war, wie es später sein würde, – eine Stütze und Führung für ihn, durch Joachims wilde Abreise, auf dem Wege ins Flachland, den er von sich aus in Ewigkeit nie zurückfinden würde. Wie würde humanistische Pädagogik ihn mahnen, die Hand zu ergreifen und die Führung anzunehmen, wenn die humanistische Pädagogik von der Gelegenheit erfuhr! Aber Herr Settembrini war nur ein Vertreter – von Dingen und Mächten, die hörenswert waren, aber nicht allein, nicht unbedingt; und auch mit Joachim stand es so. Er war Militär, jawohl. Er reiste ab – beinahe in dem Augenblick, wo die hochbrüstige Marusja zurückkehren sollte (am ersten Oktober kehrte sie bekanntlich zurück), während ihm, dem zivilistischen Hans Castorp, die Abreise namentlich und abgekürzt gesprochen darum unmöglich schien, weil er auf Clawdia Chauchat warten mußte, von deren Rückkehr bei weitem noch nichts verlautete. »Das ist nicht meine Auffassung«, hatte Joachim gesagt, als Radamanth ihm von Desertion gesprochen hatte, was zweifellos in Hinsicht auf Joachim nur Kohl und Geschwafel gewesen war von des verdüsterten Hofrats Seite. Aber für ihn, den Zivilisten, lagen die Dinge denn doch wohl anders. Für ihn (ja, ganz ohne Zweifel, so war es! Um diesen entscheidenden Gedanken aus seinem Gefühle emporzuarbeiten, hatte er sich heute hier ins Naßkalte gelegt) – für ihn wäre es wirklich Desertion gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen und wilde oder halbwilde Abreise ins Flachland zu {635} halten, Desertion von ausgebreiteten Verantwortlichkeiten, die ihm aus der Anschauung des Hochgebildes, genannt Homo Dei, hier oben erwachsen, Verrat an schweren und erhitzenden, ja seine natürlichen Kräfte übersteigenden, doch abenteuerlich beglückenden Regierungspflichten, denen er hier in der Loge und am blau blühenden Orte oblag.
Er riß das Thermometer aus dem Munde, so heftig, wie vorher nur einmal: nach erster Benutzung, nachdem die Oberin ihm eben das zierliche Werkzeug verkauft, und blickte mit ebensolcher Begierde wie damals darauf nieder. Merkurius war kräftig emporgewandert, er zeigte siebenunddreißig-acht, fast –neun.
Hans Castorp warf die Decken von sich, sprang auf und tat einen schnellen Gang ins Zimmer, zur Korridortür und zurück. Dann, wieder in horizontaler Lage, rief er leise Joachim an und fragte nach dessen Kurve.
»Ich messe nicht mehr«, antwortete Joachim.
»Na, ich habe Tempus«, sagte Hans Castorp, das Wort in Nachfolge Frau Stöhrs nach Analogie von »Schampus« behandelnd; worauf Joachim hinter der Glaswand sich schweigend verhielt.
Auch später sagte er nichts, an diesem Tag und den folgenden, forschte mit Worten nicht nach des Vetters Plänen und Entschlüssen, die sich ganz von selbst, bei knapp gesetzter Frist, offenbaren mußten: durch Handlungen oder das Unterlassen von Handlungen, und
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