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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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den Pelzsack nebst den Kamelhaardecken vom Hausdiener in Sackleinen nähen: vielleicht, daß er sie im Manöver einmal gebrauchen konnte. Er fing an, Lebewohl zu sagen. Er machte Abschiedsvisite bei Naphta und Settembrini – allein, denn sein Vetter schloß sich nicht an bei diesem Gange und fragte auch nicht, was Settembrini zu Joachims bevorstehender Abreise und Hans Castorps bevorstehender Nicht-Abreise gemeint und geäußert: ob er nun »Szieh, szieh« oder »Szo, szo« gesagt hatte, oder beides, oder »Poveretto«, das mußte ihm gleichgültig bleiben.
    Dann kam der Vorabend der Abreise, wo Joachim alles zum letztenmal absolvierte, jede Mahlzeit, jede Liegekur, jeden Lustwandel, und von den Ärzten, der Oberin Urlaub nahm. Und es tagte der Morgen selbst: heißäugig und mit kalten Händen kam Joachim zum Frühstück, denn er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, nahm auch kaum einen Bissen zu sich und schnellte, als die Zwergin meldete, das Gepäck sei aufgeschnallt, hastig vom Stuhl, um von den Tischgenossen zu scheiden. Frau Stöhr vergoß Tränen, die leicht fließenden, salzlosen Tränen der Ungebildeten, beim Lebewohl und zeigte gleich darauf hinter Joachims Rücken der Lehrerin mit Kopfschütteln und gespreizt hin und her gedrehter Hand eine faule Miene voll überaus ordinärer Zweifelsucht in Hinsicht auf Joachims Befugnis zur Abreise und auf sein Wohlergehen. Hans Castorp sah es, indem er im Stehen seine Tasse austrank, um dem Vetter auf dem Fuße zu folgen. Noch gab es Trinkgelder zu reichen, den amtlichen Abschiedsgruß eines Gesandten der Verwaltung im Vestibül zu erwidern. Wie immer standen Patienten bereit, der Abfahrt zuzusehen: Frau Iltis mit dem »Sterilett«, die elfenbeinfarbene Levi, der ausschweifende Popów mit seiner Braut. Sie winkten mit Tüchern, während der Wagen, am Hinterrad gebremst, die Anfahrt hinabschurrte. Joachim hatte Ro {639} sen erhalten. Er trug einen Hut auf dem Kopf. Hans Castorp nicht.
    Der Morgen war prächtig, der erste sonnige nach langer Trübe. Das Schiahorn, die Grünen Türme, die Kuppe des Dorfberges standen unveränderlich wahrzeichenhaft vor der Bläue, und Joachims Augen ruhten darauf. Fast schade, meinte Hans Castorp, daß gerade zur Abreise so schönes Wetter geworden. Es läge Bosheit darin, und ein recht unwirtlicher Schlußeindruck erleichtere jede Trennung. Worauf Joachim: der Erleichterung bedürfe er nicht, und das sei vorzügliches Ausbildungswetter, er könne es drunten wohl brauchen. Sonst sprachen sie wenig. Wie alles lag für jeden von beiden und zwischen ihnen, gab es freilich nichts Rechtes zu sagen. Auch hatten sie vor sich den Hinkenden auf dem Bock neben dem Kutscher.
    Hochsitzend, gestoßen auf den harten Kissen des Kabrioletts, hatten sie den Wasserlauf, das schmale Geleise zurückgelassen, fuhren sie hin auf der unregelmäßig bebauten, der Eisenbahn gleichlaufenden Straße und hielten auf steinigem Platz vorm Bahnhofsgebäude von »Dorf«, das nicht viel mehr als ein Schuppen war. Hans Castorp erkannte alles mit Schrekken wieder. Seit seiner Ankunft vor dreizehn Monaten, bei einfallender Dämmerung, hatte er die Station nicht wieder gesehen. »Hier bin ich ja angekommen«, sagte er überflüssigerweise, und Joachim antwortete nur: »Tja, das bist du«, und entlohnte den Kutscher.
    Der rührige Hinkende besorgte alles, den Fahrschein, das Gepäck. Sie standen beieinander auf dem Perron, am Miniaturzuge, neben dem kleinen, grau gepolsterten Wagenabteil, worin Joachim mit Mantel, Plaidrolle und Rosen einen Platz belegt hatte. »Na, dann schwöre du nur deinen schwärmerischen Eid!« sagte Hans Castorp, und Joachim erwiderte: »Wird gemacht.« Was noch? Letzte Grüße trugen sie einander auf, Grüße an die dort unten, an die hier oben. Dann zeichnete {640} Hans Castorp nur noch mit seinem Stock auf dem Asphalt. Als zum Einsteigen gerufen wurde, fuhr er auf, sah Joachim an und dieser ihn. Sie gaben einander die Hand. Hans Castorp lächelte unbestimmt; des andren Augen waren ernst und traurig dringlich. »
Hans
!« sagte er – allmächtiger Gott! hatte sich etwas so Peinliches schon je in der Welt ereignet? Er redete Hans Castorp mit Vornamen an! Nicht mit »Du« oder »Mensch«, wie sie es ihrer Lebtag gehalten hatten, sondern aller Sittensprödigkeit zum Trotz und peinlichst überschwänglicher Weise mit Vornamen! »Hans«, sagte er und drückte mit dringlicher Angst dem Vetter die Hand, während dieser bemerken mußte, daß dem

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