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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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woraus es bestand, es waren Myriaden im Erstarren zu ebenmäßiger Vielfalt kristallisch zusammengeschossener Wasserteilchen, – Teilchen eben der anorganischen Substanz, die auch das Lebensplasma, den Pflanzen-, den Menschenleib quellen machte, – und unter den Myriaden von Zaubersternchen in ihrer untersichtigen, dem Menschenauge nicht zugedachten, heimlichen Kleinpracht war nicht eines dem anderen gleich; eine endlose Erfindungslust in der Abwandlung und allerfeinsten Ausgestaltung eines und immer desselben Grundschemas, des gleichseitig-gleichwinkligen Sechsecks, herrschte da; aber in sich selbst war jedes der kalten Erzeugnisse von unbedingtem Ebenmaß und eisiger Regelmäßigkeit, ja, dies war das Unheimliche, Widerorganische und Lebensfeindliche daran; sie waren zu regelmäßig, die zum Leben geordnete Substanz war es niemals in diesem Grade, dem Leben schauderte vor der genauen Richtigkeit, es empfand sie als tödlich, als das Geheimnis des Todes selbst, und Hans Castorp glaubte zu verstehen, warum Tempelbaumeister der Vorzeit absichtlich und insgeheim kleine Abweichungen von der Symmetrie in ihren Säulenordnungen angebracht hatten.
    Er stieß sich ab, schlürfte auf seinen Kufen fort, fuhr am Waldrande den dicken Schneebelag der Schräge ins Neblige hinunter und trieb sich, steigend und gleitend, ziellos und gemächlich, weiter in dem toten Gelände umher, das mit seinen leeren, welligen Gebreiten, seiner Trockenvegetation, die aus einzelnen, dunkel hervorstechenden Latschenbüschen bestand, und seiner Horizontbegrenzung von weichen Erhebungen so auffallend einer Dünenlandschaft glich. Hans Castorp nickte zufrieden mit dem Kopf, wenn er stand und sich an dieser Ähnlichkeit weidete; und auch den Brand seiner Miene, die Neigung zum Gliederzittern, die eigentümliche und trun {724} kene Mischung von Aufregung und Müdigkeit, die er spürte, duldete er mit Sympathie, da dies alles ihn an nah verwandte Wirkungen der ebenfalls aufpeitschenden und zugleich mit schlafbringenden Stoffen gesättigten Seeluft vertraulich erinnerte. Er empfand mit Genugtuung seine beschwingte Unabhängigkeit, sein freies Schweifen. Vor ihm lag kein Weg, an den er gebunden war, hinter ihm keiner, der ihn so zurückleiten würde, wie er gekommen war. Es hatte anfangs Stangen, eingepflanzte Stöcke, Schneezeichen gegeben, aber absichtlich hatte er sich bald von ihrer Bevormundung freigemacht, da sie ihn an den Mann mit dem Hörnchen erinnerten und seinem inneren Verhältnis zur großen Winterwildnis nicht angemessen schienen.
    Hinter verschneiten Felshügeln, zwischen denen er sich, bald rechts, bald links lenkend, hindurchschob, lag eine Schräge, dann eine Ebene, dann großes Gebirge, dessen weich gepolsterte Schluchten und Pässe so zugänglich und lockend schienen. Ja, die Lockung der Fernen und Höhen, der immer neu sich auftuenden Einsamkeiten war stark in Hans Castorps Gemüt, und auf die Gefahr, sich zu verspäten, strebte er tiefer ins wilde Schweigen, ins Nichtgeheure, für nichts Gutstehende hinein, – ungeachtet, daß überdies die Spannung und Beklommenheit seines Inneren zur wirklichen Furcht wurde angesichts der vorzeitig zunehmenden Himmelsdunkelheit, die sich wie graue Schleier auf die Gegend herabsenkte. Diese Furcht machte ihm bewußt, daß er es heimlich bisher geradezu darauf angelegt hatte, sich um die Orientierung zu bringen und zu vergessen, in welcher Richtung Tal und Ortschaft lagen, was ihm denn auch in erwünschter Vollständigkeit gelungen war. Übrigens durfte er sich sagen, daß, wenn er sofort umkehrte und immer bergab fuhr, das Tal, wenn auch möglicherweise fern vom »Berghof«, rasch erreicht sein werde, – zu rasch; er würde zu früh kommen, würde seine Zeit nicht aus {725} genutzt haben, während er allerdings, wenn das Schneeunwetter ihn überraschte, den Heimweg wohl vorderhand überhaupt nicht finden würde. Darum aber vorzeitig flüchtig zu werden, weigerte er sich, – die Furcht, seine aufrichtige Furcht vor den Elementen mochte ihn beklemmen wie sie wollte. Das war kaum sportsmännisch gehandelt; denn der Sportsmann läßt sich mit den Elementen nur ein, solange er sich ihr Herr und Meister weiß, übt Vorsicht und ist der Klügere, der nachgibt. Was aber in Hans Castorps Seele vorging, war nur mit einem Wort zu bezeichnen: Herausforderung. Und soviel Tadel das Wort umschließt, auch wenn – oder besonders wenn – das ihm entsprechende frevelhafte Gefühl mit so viel

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