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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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durch die hohlen Hände eine Warnung nach und ging pädagogisch befriedigt nach Hause.
    Es war schön im winterlichen Gebirge, – nicht schön auf gelinde und freundliche Weise, sondern so, wie die Nordseewildnis schön ist bei starkem West, – zwar ohne Donnerlärm, sondern in Totenstille, doch ganz verwandte Ehrfurchtsgefühle erweckend. Hans Castorps lange, biegsame Sohlen trugen ihn in allerlei Richtung: entlang der linken Lehne gegen Clavadel oder rechtshin an Frauenkirch und Glaris vorüber, hinter denen der Schatten des Amselfluhmassivs im Nebel spukte; auch in das Dischmatal oder hinter dem Berghof empor in Richtung auf das bewaldete Seehorn, von dem nur die schneeige Spitze über die Baumgrenze ragte, und den Drusatschawald, hinter dem man den bleichen Schattenriß der tief verschneiten Rhätikonkette erblickte. Er ließ sich auch mit seinen Hölzern von der Drahtseilbahn zur Schatzalp steil aufheben und trieb sich gemächlich dort oben, zweitausend Meter hoch entführt, auf schimmernden Schrägflächen von Puderschnee herum, die bei sichtigem Wetter einen hehren Weitblick über die Landschaft seiner Abenteuer boten.
    Er freute sich seiner Errungenschaft, vor welcher die Unzugänglichkeit sich auftat und Hindernisse fast zunichte wurden. Sie umgab ihn mit erwünschter Einsamkeit, der erdenklich tiefsten sogar, einer Einsamkeit, die das Herz mit Empfindungen des menschlich Wildfremden und Kritischen berührte. Da war wohl zu seiner einen Seite ein Tannenabsturz hinab in Schneedunst und andererseits ein Felsenaufstieg mit ungeheueren, zyklopischen, gewölbten und gebuckelten, Höhlen und {717} Kappen bildenden Schneemassen. Die Stille, wenn er regungslos stehen blieb, um sich selbst nicht zu hören, war unbedingt und vollkommen, eine wattierte Lautlosigkeit, unbekannt, nie vernommen, sonst nirgends vorkommend. Da war kein Windhauch, der die Bäume auch nur aufs leiseste gerührt hätte, kein Rauschen, nicht eine Vogelstimme. Es war das Urschweigen, das Hans Castorp belauschte, wenn er so stand, auf seinen Stock gestützt, den Kopf zur Schulter geneigt, mit offenem Munde; und still und unablässig schneite es weiter darin, ruhig hinsinkend, ohne einen Laut.
    Nein, diese Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr, sie nahm ihn nicht eigentlich an und auf, sie duldete sein Eindringen, seine Gegenwart auf eine nicht geheuere, für nichts gutstehende Weise, und Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen. Das Kind der Zivilisation, fern und fremd der wilden Natur von Hause aus, ist ihrer Größe viel zugänglicher als ihr rauher Sohn, der, von Kindesbeinen auf sie angewiesen, in nüchterner Vertraulichkeit mit ihr lebt. Dieser kennt kaum die religiöse Furcht, mit der jener, die Augenbrauen hochgezogen, vor sie tritt und die sein ganzes Empfindungsverhältnis zu ihr in der Tiefe bestimmt, eine beständige fromme Erschütterung und scheue Erregung in seiner Seele unterhält. Hans Castorp, in seiner langärmeligen Kamelhaarweste, seinen Wickelgamaschen und auf seinen Luxusski, kam sich im Grunde sehr keck vor im Belauschen der Urstille, der tödlich lautlosen Winterwildnis, und das Erleichterungsgefühl, das sich meldete, wenn auf dem Heimweg die ersten menschlichen Wohnstätten im Geschleier wieder auftauchten, machte ihm seinen vorherigen Zustand bewußt und lehrte ihn, daß stundenlang ein heimlich-heiliger Schrecken sein Gemüt beherrscht hatte. Auf Sylt {718} hatte er, in weißen Hosen, sicher, elegant und ehrerbietig, am Rande der mächtigen Brandung gestanden wie vor einem Löwenkäfig, hinter dessen Gitter die Bestie ihren Rachen mit den fürchterlichen Reißzähnen schlundtief ergähnen läßt. Dann hatte er gebadet, während ein Strandwächter auf einem Hörnchen denjenigen Gefahr zublies, die frecherweise versuchten, über die erste Welle hinauszudringen, dem herantreibenden Ungewitter auch nur zu nahe zu kommen, und noch der letzte Auslauf des Katarakts hatte den Nacken wie Prankenschlag getroffen. Von dorther kannte der junge Mensch das Begeisterungsglück leichter Liebesberührungen mit Mächten, deren volle Umarmung vernichtend sein würde. Was er aber nicht gekannt hatte, war die Neigung, diese begeisternde Berührung mit der tödlichen Natur so weit zu verstärken, daß die volle Umarmung drohte, – als ein schwaches, wenn

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