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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Durchleuchtungskammer, frevelhafterweise vielleicht, belauscht hatte. Und eine Art von Rührung wandelte ihn an, eine einfache und andächtige Sympathie mit seinem Herzen, dem schlagenden Menschenherzen, so ganz allein hier oben im Eisig-Leeren mit seiner Frage und seinem Rätsel.
    Er schob sich weiter, höher hinauf, gegen den Himmel. Manchmal stieß er das obere Ende seines Skistockes in den Schnee und sah zu, wie blaues Licht aus der Tiefe des Loches dem Stabe nachstürzte, wenn er ihn herauszog. Das machte {721} ihm Spaß; er konnte lange stehen bleiben, um die kleine optische Erscheinung wieder und wieder zu erproben. Es war so ein eigentümliches zartes Berg- und Tiefenlicht, grünlich-blau, eisklar und doch schattig, geheimnisvoll anziehend. Es erinnerte ihn an das Licht und die Farbe gewisser Augen, schicksalblickender Schrägaugen, die Herr Settembrini vom humanistischen Standpunkte aus verächtlich als »Tatarenschlitze« und »Steppenwolfslichter« bezeichnet hatte, – an früh erschaute und unvermeidlich wieder gefundene, an Hippes und Clawdia Chauchats Augen. »Gern«, sagte er halblaut in der Lautlosigkeit. »Aber mach ihn nicht entzwei: Il est à visser, tu sais.« Und im Geiste hörte er hinter sich wohllautende Mahnungen zur Vernunft.
    Rechts seitwärts in einiger Entfernung nebelte Wald. Er wandte sich dorthin, um ein irdisches Ziel vor Augen zu haben, statt weißlicher Transzendenz, und fuhr plötzlich ab, ohne daß er im geringsten eine Geländesenkung hatte kommen sehen. Die Blendung verhinderte jedes Erkennen der Bodengestaltung. Man sah nichts; alles verschwamm vor den Augen. Ganz unerwartet hoben Hindernisse ihn auf. Er überließ sich dem Gefälle, ohne mit dem Auge den Grad seiner Neigung zu unterscheiden.
    Das Gehölz, das ihn angezogen hatte, lag jenseits der Schlucht, in die er unversehens hineingefahren. Ihr mit lokkerem Schnee bedeckter Grund senkte sich nach der Seite des Gebirges hin, wie er bemerkte, als er ihn ein Stück in dieser Richtung verfolgte. Es ging abwärts; die Seitenschrägen erhöhten sich; wie ein Hohlweg schien die Falte in den Berg hineinzuführen. Dann standen die Schnäbel seines Fahrzeugs wieder aufwärts; der Boden hob sich, es gab bald keine Seitenwand mehr zu ersteigen; Hans Castorps weglose Fahrt ging wieder auf offener Berghalde gegen den Himmel.
    Er sah das Nadelholz seitlich hinter und unter sich, wandte {722} sich dorthin und erreichte in schneller Abfahrt die schneebeladenen Tannen, die sich, keilförmig angeordnet, als Ausläufer abschüssig vernebelnder Waldungen ins Baumfreie vorschoben. Unter ihren Zweigen rauchte er ausruhend eine Zigarette, in seiner Seele immerfort etwas bedrückt, gespannt, beklommen von der übertiefen Stille, der abenteuerlichen Einsamkeit, aber stolz, sie erobert zu haben, und mutig im Gefühl seines Würdenrechtes auf diese Umgebung.
    Es war nachmittags um drei Uhr. Bald nach Tische hatte er sich aufgemacht, um einen Teil der Großen Liegekur und die Vespermahlzeit zu schwänzen und vor Dunkelwerden zurück zu sein. Wohligkeit erfüllte ihn bei dem Gedanken, daß mehrere Stunden zum Schweifen im Freien und Großartigen vor ihm lagen. Er hatte etwas Schokolade in der Tasche seiner Breeches und eine kleine Flasche mit Portwein in der Westentasche.
    Der Stand der Sonne war kaum zu erkennen, so dicht umnebelt war sie. Hinten, in der Gegend des Talausganges, des Gebirgswinkels, den man nicht sah, dunkelte das Gewölk, das Gedünste tiefer und schien sich vorzuschieben. Es sah nach Schnee aus, mehr Schnee, um dringendem Bedarf abzuhelfen, – nach einem ordentlichen Gestöber. Und wirklich fielen die kleinen, lautlosen Flocken über der Halde schon reichlicher.
    Hans Castorp trat vor, um ein paar davon auf seinen Ärmel fallen zu lassen und sie mit den Kenneraugen des Liebhaberforschers zu betrachten. Sie schienen formlose Fetzchen, aber er hatte mehr als einmal ihresgleichen unter seiner guten Linse gehabt und wußte wohl, aus was für zierlichst genauen kleinen Kostbarkeiten sie sich zusammensetzten, Kleinodien, Ordenssternen, Brillantagraffen, wie der getreueste Juwelier sie nicht reicher und minuziöser hätte herstellen können, – ja, es hatte mit all diesem leichten, lockeren Puderweiß, das in Massen den Wald beschwerte, das Gebreite bedeckte, und über das seine {723} Fußbretter ihn trugen, denn doch eine andere Bewandtnis als mit dem heimischen Meersande, an den es erinnerte: das waren bekanntlich nicht Steinkörner,

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