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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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aufrichtiger Furcht verbunden ist, so ist doch bei einigem menschlichen Nachdenken ungefähr zu begreifen, daß in den Seelengründen eines jungen Menschen und Mannes, der jahrelang gelebt hat wie dieser hier, manches sich ansammelt, oder, wie Hans Castorp, der Ingenieur, gesagt haben würde, »akkumuliert«, was eines Tages als ein elementares »Ach was!« oder ein »Komm denn an!« von erbitterter Ungeduld, kurz eben als Herausforderung und Verweigerung kluger Vorsicht sich entlädt. Und so fuhr er denn zu auf seinen langen Pantoffeln, glitt noch den Abhang hinunter und schob sich über die folgende Halde, auf der in einiger Entfernung ein Holzhäuschen, Heuschober oder Almhütte mit steinbeschwertem Dache, stand, dem nächsten Berge zu, dessen Rücken borstig von Tannen war, und hinter dem Hochgipfel sich nebelhaft türmten. Die mit einzelnen Baumgruppen besetzte Wand vor ihm war schroff, aber schräg rechtshin mochte man sie in mäßiger Steigung halb umgehen und hinter sie kommen, um zu sehen, was da weiter sein werde, und an dieses Forschergeschäft machte sich Hans Castorp, nachdem er vor dem Feld mit der Sennhütte noch in eine ziemlich tiefe, von rechts nach links abfallende Schlucht hinabgefahren war.
    {726} Er hatte eben wieder angefangen zu steigen, als denn also, wie zu erwarten gestanden, Schneefall und Sturm losgingen, daß es eine Art hatte, – der Schneesturm, mit einem Worte, war da, der lange gedroht hatte, wenn man von »Drohung« sprechen kann in Hinsicht auf blinde und unwissende Elemente, die es nicht darauf abgesehen haben, uns zu vernichten, was vergleichsweise anheimelnd wäre, sondern denen es auf die ungeheuerste Weise gleichgültig ist, wenn das nebenbei mit unterläuft. »Hallo!« dachte Hans Castorp und blieb stehen, als der erste Windstoß in das dichte Gestöber fuhr und ihn traf. »Das ist eine Sorte von Anhauch. Die geht ins Mark.« Und wirklich war dieser Wind von ganz gehässiger Art: die furchtbare Kälte, die tatsächlich herrschte, gegen zwanzig Grad unter Null, war nur dann nicht zu spüren und mutete milde an, wenn die feuchtigkeitslose Luft still und unbewegt war wie gewöhnlich; sobald sie sich aber windig regte, schnitt das wie mit Messern ins Fleisch, und wenn es zuging wie jetzt – denn der erste fegende Windlauf war nur ein Vorläufer gewesen –, so hätten sieben Pelze nicht hingereicht, das Gebein vor eisigem Todesschrecken zu schützen, und Hans Castorp trug nicht sieben Pelze, sondern nur eine wollene Weste, die ihm sonst auch vollkommen genügt hatte und ihm bei dem geringsten Sonnenschein sogar lästig gewesen war. Übrigens bekam er den Wind etwas seitlich von hinten, so daß es sich wenig empfahl, umzukehren und ihn von vorn zu empfangen; und da diese Überlegung sich mit seinem Trotz und mit dem gründlichen »Ach was!« seiner Seele mischte, so strebte der tolle Junge immer noch weiter, zwischen einzeln stehenden Tannen hin, um hinter den in Angriff genommenen Berg zu kommen.
    Dabei jedoch war gar kein Vergnügen, denn man sah nichts vor Flockentanz, der scheinbar ohne zu fallen in dichtestem Wirbelgedränge allen Raum erfüllte; die dreinfahrenden Eisböen machten die Ohren mit scharfem Schmerze brennen, {727} lähmten die Glieder und ließen die Hände ertauben, so daß man nicht mehr wußte, ob man den Pickelstock noch hielt oder nicht. Der Schnee wehte ihm hinten in den Kragen und schmolz ihm den Rücken hinunter, legte sich ihm auf die Schultern und bedeckte seine rechte Flanke; es war ihm, als solle er hier zum Schneemann erstarren, seinen Stock steif in der Hand; und all diese Unzuträglichkeit ergab sich bei vergleichsweise günstigen Umständen: wendete er sich, so würde es schlimmer sein; und doch hatte der Heimweg sich zu einem Stück Arbeit gestaltet, das in Angriff zu nehmen er wohl nicht zögern sollte.
    So blieb er denn stehen, zuckte zornig mit den Achseln und stellte seine Bretter herum. Der Gegenwind verschlug ihm sofort den Atem, so daß er der unbequemen Prozedur der Umstellung sich nochmals unterzog, um zu Luft zu kommen und mit besserer Fassung dem gleichgültigen Feinde die Stirn zu bieten. Bei gesenktem Kopfe und vorsichtig geregeltem Atemhaushalt gelang ihm denn auch, in umgekehrter Richtung sich in Bewegung zu setzen, – überrascht, trotz böser Erwartungen, von den Schwierigkeiten des Vorwärtskommens, die namentlich aus seiner Blindheit und seiner Atemknappheit erwuchsen. Jeden Augenblick war er zum Haltmachen gezwungen,

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