Der Zauberberg
Stirn vorstand und in die Schläfe fiel, hielt sich, gerade unter seinem Sitz, mit auf der Brust verschränkten Armen von den Genossen abseits – nicht traurig oder trotzig, sondern eben nur gelassen abseits. Und dieser sah ihn, wandte den Blick zu ihm hinauf, und seine Augen gingen zwischen dem Späher und den Bildern des Strandes, sein Lauschen belauschend, hin und her. Plötzlich aber blickte er über ihn hinaus, sah hinter ihn ins Weite, und augenblicklich verschwand aus seinem schönen, streng geschnittenen, halbkindlichen Gesicht das allen gemeinsame Lächeln höflich geschwisterlicher Rücksicht – ja, ohne daß seine Brauen sich verfinstert hätten, erstand in seiner Miene ein Ernst, ganz wie aus Stein, ausdruckslos, unergründlich, eine Todesverschlossenheit, vor der den kaum beruhigten Hans Castorp der blasse Schrecken ankam, nicht ohne eine Beitat von unbestimmter Ahnung ihres Sinnes.
{744} Auch er sah rückwärts … Mächtige Säulen, ohne Sockel, aus zylindrischen Blöcken getürmt, in deren Fugen Moos sproßte, ragten hinter ihm – die Säulen eines Tempeltors, auf dessen in der Mitte offenem Stufenunterbau er saß. Schweren Herzens stand er auf, stieg seitlich die Stufen hinab und ging in den tiefen Torweg hinein, hindurch, auf einer mit Fliesen belegten Straße fort, die ihn alsbald vor neue Propyläen führte. Er durchschritt auch sie, und nun lag vor ihm der Tempel, massig, graugrünlich verwittert anzusehen, mit steilem Treppensockel und breiter Stirn, die auf den Kapitälen solcher gewaltiger und fast gedrungener, nach oben sich verjüngender Säulen lag, aus deren Gefüge manchmal ein gekehlter Rundblock, verschoben, seitlich austrat. Mit Mühe, auch unter Gebrauch der Hände und seufzend, denn immer beengter wurde es ihm ums Herz, erkletterte Hans Castorp die hohen Stufen und gewann den Hallenwald der Säulen. Der war sehr tief, er ging darin umher wie zwischen den Stämmen des Buchenwaldes am blassen Meer, indem er absichtlich die Mitte vermied und auszuweichen suchte. Doch schweifte er wieder zu ihr zurück und fand sich, wo die Säulenreihen auseinander traten, vor einer Statuengruppe, zwei steinernen Frauenfiguren auf einem Sockel, Mutter und Tochter, wie es schien: die eine, sitzend, älter, würdiger, recht milde und göttlich, doch mit klagenden Brauen über den sternlos leeren Augen, in faltenreicher Tunika und Oberkleid, den gewellten Matronenscheitel mit einem Schleier bedeckt; die andere, stehend, von jener mütterlich umschlungen, mit rundem Jungfrauengesicht, Arme und Hände in die Falten ihres Übergewandes geschlungen und darin verborgen.
In der Betrachtung des Standbildes wurde Hans Castorps Herz aus dunklen Gründen noch schwerer, angst- und ahnungsvoller. Er getraute sich kaum und war doch genötigt, die Gestalten zu umgehen und hinter ihnen die nächste doppelte Säulenreihe zurückzulegen: Da stand ihm die metallene Tür {745} der Tempelkammer offen, und die Knie wollten dem Armen brechen vor dem, was er mit Starren erblickte. Zwei graue Weiber, halbnackt, zottelhaarig, mit hängenden Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen, hantierten dort drinnen zwischen flackernden Feuerpfannen aufs gräßlichste. Über einem Becken zerrissen sie ein kleines Kind, zerrissen es in wilder Stille mit den Händen – Hans Castorp sah zartes blondes Haar mit Blut verschmiert – und verschlangen die Stücke, daß die spröden Knöchlein ihnen im Maule knackten und das Blut von ihren wüsten Lippen troff. Grausende Eiseskälte hielt Hans Castorp in Bann. Er wollte die Hände vor die Augen schlagen und konnte nicht. Er wollte fliehen und konnte nicht. Da hatten sie ihn schon gesehen bei ihrem greulichen Geschäft, sie schüttelten die blutigen Fäuste nach ihm und schimpften stimmlos, aber mit letzter Gemeinheit, unflätig, und zwar im Volksdialekt von Hans Castorps Heimat. Es wurde ihm so übel, so übel wie noch nie. Verzweifelt wollte er sich von der Stelle reißen – und so, wie er dabei an der Säule in seinem Rücken seitlich hingestürzt, so fand er sich, das scheußliche Flüsterkeifen noch im Ohr, von kaltem Grausen noch ganz umklammert an seinem Schuppen im Schnee, auf einem Arme liegend, mit angelehntem Kopf, die Beine mit den Ski-Hölzern von sich gestreckt.
Es war jedoch kein rechtes und eigentliches Erwachen; er blinzelte nur, erleichtert, die Greuelweiber los zu sein, doch war es ihm sonst wenig deutlich, noch auch sehr wichtig, ob er an einer Tempelsäule liege oder
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