Der Zauberberg
katholisch!«
»Sie meinen –«
»Wie enorm katholisch ich das finde, Gott zu streichen!«
»Sie wollen ausdrücken –«
»Nichts Hörenswertes, Herr Settembrini. Achten Sie nicht besonders auf mein Geplapper! Es kam mir nur diesen Moment so vor, als ob Atheismus etwas kolossal Katholisches sei, und als ob man Gott nur streiche, um desto besser katholisch sein zu können.«
Wenn darauf Herr Settembrini eine Pause eintreten ließ, so war klar, daß es einzig aus pädagogischer Besonnenheit geschah. Er antwortete nach gemessenem Stillschweigen:
»Ingenieur, ich bin weit von dem Wunsche entfernt, Sie in Ihrem Protestantismus beirren und kränken zu wollen. Wir sprachen von Toleranz … Es ist überflüssig, zu betonen, daß ich dem Protestantismus mehr als Duldung, daß ich ihm als dem historischen Opponenten der Gewissensknebelung tiefste Bewunderung entgegenbringe. Die Erfindung der Buchdrukkerkunst und die Reformation sind und bleiben die beiden erhabensten Verdienste, die Mitteleuropa sich um die Menschheit erworben hat. Ohne Frage. Allein nach dem, was Sie soeben äußerten, zweifle ich nicht, daß Sie mich aufs Wort verstehen {779} werden, wenn ich darauf hinweise, daß das nur eine Seite der Sache ist, und daß sie ihre zweite hat. Der Protestantismus birgt Elemente … Die Persönlichkeit Ihres Reformators selbst barg Elemente … Ich denke an Elemente der Ruheseligkeit und der hypnotischen Versenkung, die nicht europäisch, die dem Lebensgesetz dieses tätigen Erdteils fremd und feindlich sind. Sehen Sie ihn sich doch an, diesen Luther! Betrachten Sie Bildnisse von ihm, jugendliche und spätere! Was ist denn das für ein Schädel, was sind das für Backenknochen, was für ein seltsamer Augensitz! Mein Freund, das ist Asien! Es sollte mich wundern, es sollte mich höchlichst wundern, wenn da nicht Wendisch-Slawisch-Sarmatisches im Spiele gewesen wäre, und wenn also nicht die – wer wollte es leugnen – gewaltige Erscheinung dieses Mannes eine verhängnisvolle Überbelastung einer der beiden in Ihrem Lande so gefährlich gleichstehenden Schalen zu bedeuten gehabt hätte, – ein furchtbares Gewicht in die östliche, von welchem die andere, die westliche Schale, noch heute überwogen gen Himmel flattert …«
Von dem humanistischen Klapp-Pult am Fensterchen, vor dem er gestanden, war Herr Settembrini an den Rundtisch mit der Wasserflasche getreten, näher zu seinem Schüler hin, der auf dem an die Wand gerückten Ruhebette saß, ohne Rückenlehne, den Ellenbogen aufs Knie und das Kinn in die Hand gestützt.
»Caro!« sagte Herr Settembrini. »Caro amico! Entscheidungen werden zu treffen sein, – Entscheidungen von unüberschätzbarer Tragweite für das Glück und die Zukunft Europas, und Ihrem Lande werden sie zufallen, in seiner Seele werden sie sich zu vollziehen haben. Zwischen Ost und West gestellt, wird es wählen müssen, wird es endgültig und mit Bewußtsein zwischen den beiden Sphären, die um sein Wesen werben, sich entscheiden müssen. Sie sind jung, Sie werden an dieser Entscheidung beteiligt sein, sind berufen, sie zu beeinflussen. Dar {780} um lassen Sie uns das Schicksal segnen, das Sie in diese entsetzlichen Gegenden verschlagen hat, zugleich aber mir Gelegenheit gibt, mit meinem nicht ungeübten, nicht völlig matten Wort auf Ihre bildsame Jugend einzuwirken und ihr die Verantwortlichkeit fühlbar zu machen, die sie –, die Ihr Land vor dem Angesicht der Gesittung trägt …«
Hans Castorp saß, das Kinn in der Faust. Er blickte zum Mansardenfenster hinaus, und in seinen einfachen blauen Augen war eine gewisse Widerspenstigkeit zu lesen. Er schwieg.
»Sie schweigen«, sprach Herr Settembrini bewegt. »Sie und Ihr Land, Sie lassen ein vorbehaltvolles Schweigen walten, dessen Undurchsichtigkeit kein Urteil über seine Tiefe gestattet. Sie lieben das Wort nicht oder besitzen es nicht oder heiligen es auf eine unfreundliche Weise, – die artikulierte Welt weiß nicht und erfährt nicht, woran sie mit Ihnen ist. Mein Freund, das ist gefährlich. Die Sprache ist die Gesittung selbst … Das Wort, selbst das widersprechendste, ist so verbindend … Aber die Wortlosigkeit vereinsamt. Man vermutet, Sie werden Ihre Einsamkeit durch Taten zu brechen suchen. Sie werden Vetter Giacomo« (Herr Settembrini pflegte Joachim der Bequemlichkeit halber »Giacomo« zu nennen), »Sie werden Ihren Vetter Giacomo vor Ihr Schweigen treten lassen, ›und zwei mit gewaltigen Streichen erlegt
Weitere Kostenlose Bücher