Der Zauberberg
Stirn, die aus einem edlen, aber heiklen Stoff zwischen Wachs und Marmor gebildet schien, und in dem ebenfalls etwas gekrausten Bart wölbten die Lippen sich voll und stolz. Ein antiker Helm hätte diesem Haupte wohl angestanden, wie mehrere der Besucher meinten, die sich zum Abschiede einfanden.
{813} Frau Stöhr weinte begeistert im Anblick der Form des ehemaligen Joachim. »Ein Held! Ein Held!« rief sie mehrfach und verlangte, daß an seinem Grabe die »Erotika« von Beethoven gespielt werden müsse.
»Schweigen Sie doch!« zischte Settembrini sie von der Seite an. Er war nebst Naphta gleichzeitig mit ihr im Zimmer und herzlich bewegt. Mit beiden Händen wies er die Anwesenden auf Joachim hin, indem er sie zur Klage aufforderte. »Un giovanotto tanto simpàtico, tanto stimàbile!« rief er wiederholt.
Naphta enthielt sich nicht, aus seiner gebundenen Haltung heraus und ohne ihn anzublicken, leise und bissig gegen ihn hin zu äußern:
»Ich freue mich, zu sehen, daß Sie außer für Freiheit und Fortschritt auch noch für ernste Dinge Sinn haben.«
Settembrini steckte das ein. Vielleicht empfand er eine gewisse, durch die Umstände vorübergehend hervorgerufene Überlegenheit von Naphtas Position über die seine; vielleicht war es dies augenblickliche Übergewicht des Gegners, das er durch die Lebhaftigkeit seiner Trauer aufzuwiegen gesucht hatte, und das ihn jetzt schweigen ließ, – auch dann noch, als Leo Naphta, die unbeständigen Vorteile seiner Stellung ausnutzend, scharf sentenziös bemerkte:
»Der Irrtum der Literaten besteht in dem Glauben, daß nur der Geist anständig mache. Es ist eher das Gegenteil wahr. Nur wo
kein
Geist ist, gibt es Anständigkeit.«
»Na«, dachte Hans Castorp, »das ist auch so ein pythischer Spruch! Kneift man die Lippen zusammen, nachdem man ihn hingesetzt, so herrscht Einschüchterung für den Augenblick … «
Am Nachmittag kam der Metallsarg. Joachims Umlagerung in diesen stattlichen, mit Ringen und Löwenköpfen geschmückten Behälter wollte ein Mann allein als seine Sache betrachtet wissen, der mit ihm gekommen war: ein Verwandter {814} des in Anspruch genommenen Bestattungsinstituts, schwarz gekleidet, in einer Art von kurzem Bratenrock und einen Ehering an seiner plebejischen Hand, in deren Fleisch der gelbe Reif sozusagen eingewachsen, ganz davon überwuchert war. Man war geneigt, zu spüren, daß Leichengeruch seinem Bratenrock entströme, was aber auf Vorurteil beruhte. Doch ließ der Mann die Spezialisten-Einbildung erkennen, daß all sein Tun gleichsam hinter die Kulissen zu fallen habe und nur pietätvoll-parademäßige Ergebnisse den Blicken der Hinterbliebenen auszusetzen seien, – was geradezu Hans Castorps Mißtrauen erweckte und keineswegs nach seinem Sinne war. Er befürwortete zwar, daß Frau Ziemßen sich zurückzöge, ließ sich selbst aber nicht hinauskomplimentieren, sondern blieb und legte mit Hand an: unter den Achseln faßte er die Figur und half sie hinübertragen vom Bett in den Sarg, auf dessen Leilach und Troddelkissen Joachims Hülle hoch und feierlich gebettet wurde, zwischen Standleuchtern, die Haus Berghof gestellt hatte.
Am wieder nächsten Tage jedoch trat eine Erscheinung auf, die Hans Castorp bestimmte, sich innerlich von der Form zu trennen und zu lösen und tatsächlich dem Professionisten, dem üblen Hüter der Pietät, das Feld zu überlassen. Joachim nämlich, dessen Ausdruck bisher so ernst und ehrbar gewesen, hatte in seinem Kriegerbarte zu lächeln begonnen, und Hans Castorp verhehlte sich nicht, daß dieses Lächeln die Neigung zur Ausartung in sich trug – es erfüllte sein Herz mit Empfindungen der Eile. So war es in Gottes Namen denn gut, daß die Abholung bevorstand, der Sarg geschlossen und verschraubt werden sollte. Hans Castorp berührte, eingeborene Sittensprödigkeit beiseite setzend, seines ehemaligen Joachim steinkalte Stirn zum Abschied zart mit den Lippen und ging trotz allem Mißtrauen gegen den Mann der Kehrseite mit Luise Ziemßen folgsam zum Zimmer hinaus.
{815} Wir lassen den Vorhang fallen, zum vorletzten Mal. Doch während er niederrauscht, wollen wir im Geiste mit dem auf seiner Höhe zurückgebliebenen Hans Castorp fern-hinab in einen feuchten Kreuzesgarten des Flachlandes spähen und lauschen, woselbst ein Degen aufblitzt und sich senkt, Kommandoworte zucken und drei Gewehrsalven, drei schwärmerische Honneurs hinknallen über Joachim Ziemßens wurzeldurchwachsenes Soldatengrab.
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