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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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aber davon an seinem Orte), hatte wieder einmal Adventszeit geherrscht und der kürzeste Tag, Wintersanfang also, astronomisch gesprochen, in naher Aussicht gestanden. In Wirklichkeit aber, von theoretischer Anordnung abgesehen, in Hinsicht auf Schnee und Frost, hatte man damals Gott weiß wie lange schon wieder Winter gehabt, ja, dieser war allezeit nur ganz vorübergehend unterbrochen gewesen, von brennenden Sommertagen mit einer Himmelsbläue von so übertriebener Tiefe, daß sie ins Schwärzliche spielte, – von Sommertagen also, wie sie übrigens auch in den Winter fielen, wenn man den Schnee beiseite ließ, der übrigens auch in jedem Sommermonat fiel. Wie oft hatte Hans Castorp mit dem seligen Joachim über diese große Konfusion geschwatzt, welche die Jahreszeiten vermengte, sie durcheinander warf, das Jahr seiner Gliederung beraubte und es dadurch auf eine langweilige Weise kurzweilig oder auf eine {821} kurzweilige Weise langweilig machte, so daß von Zeit, einer frühen und mit Ekel getanen Äußerung Joachims zufolge, überhaupt nicht die Rede sein konnte. Was eigentlich vermengt und vermischt wurde bei dieser großen Konfusion, das waren die Gefühlsbegriffe oder die Bewußtseinslagen des »Noch« und des »Schon wieder«, – eins der verwirrendsten, vertracktesten und verhextesten Erlebnisse überhaupt, und ein Erlebnis dabei, das zu kosten Hans Castorp gleich an seinem ersten Tage hier oben eine unmoralische Neigung verspürt hatte: nämlich bei den fünf übergewaltigen Mahlzeiten im lustig schablonierten Speisesaal, wo denn ein erster Schwindel dieser Art, vergleichsweise unschuldig noch, ihn angewandelt hatte.
    Seitdem hatte dieser Sinnen- und Geistestrug weit größeren Maßstab angenommen. Die Zeit, sei ihr subjektives Erlebnis auch abgeschwächt oder aufgehoben, hat sachliche Wirklichkeit, sofern sie tätig ist, sofern sie »zeitigt«. Es ist eine Frage für Berufsdenker – und nur aus jugendlicher Anmaßung hatte also Hans Castorp sich einmal damit eingelassen –, ob die hermetische Konserve auf ihrem Wandbort außer der Zeit ist. Aber wir wissen, daß auch am Siebenschläfer die Zeit ihr Werk tut. Ein Arzt beglaubigt den Fall eines zwölfjährigen Mädchens, das eines Tages in Schlaf verfiel und dreizehn Jahre darin verharrte, – wobei sie aber kein zwölfjähriges Mädchen blieb, sondern unterdessen zum reifen Weibe erblühte. Wie könnte es anders sein. Der Tote ist tot und hat das Zeitliche gesegnet; er hat viel Zeit, das heißt: er hat gar keine, – persönlich genommen. Das hindert nicht, daß ihm noch Nägel und Haare wachsen, und daß alles in allem – aber wir wollen die burschikose Redensart nicht wiederholen, die Hans Castorp einmal in diesem Zusammenhange gebraucht, und an der Joachim damals flachländischen Anstoß genommen hatte. Auch Castorp wuchsen Haare und Nägel, sie wuchsen schnell, wie es schien, er saß so oft in {822} den weißen Mantel gehüllt auf seinem Operationsstuhl beim Coiffeur in der Hauptstraße vom Dorf und ließ sich das Haar schneiden, weil an den Ohren sich wieder Fransen gebildet hatten, – er saß eigentlich immer dort, oder vielmehr, wenn er saß und mit dem schmeichelnd-gewandten Angestellten plauderte, der sein Werk an ihm tat, nachdem die Zeit das ihre getan; oder wenn er an seiner Balkontür stand und sich mit Scherchen und Feile, seinem schönen Samtnecessaire entnommen, die Nägel kürzte, – flog plötzlich mit einer Art von Schrecken, dem neugieriges Ergötzen beigemischt war, jener Schwindel ihn an: ein Schwindel in des Wortes schwankender Doppelbedeutung von Taumel und Betrug, das wirbelige Nicht-mehr-unterscheiden von »Noch« und »Wieder«, deren Vermischung und Verwischung das zeitlose Immer und Ewig ergibt.
    Wir haben oft versichert, daß wir ihn nicht besser, aber auch nicht schlechter zu machen wünschen, als er war, und so wollen wir nicht verschweigen, daß er sein tadelnswertes Gefallen an solchen mystischen Anfechtungen, die er wohl gar bewußt und geflissentlich hervorrief, oft doch auch durch gegenteilige Bemühungen zu sühnen suchte. Er konnte sitzen, seine Uhr in der Hand – seine flache, glattgoldene Taschenuhr, deren Dekkel mit dem gravierten Monogramm er hatte springen lassen, – und niederblicken auf ihre mit schwarzen und roten arabischen Ziffern doppelt rundum besetzte Porzellankreisfläche, auf der die beiden zierlich-prachtvoll verschnörkelten Goldzeiger auseinander wiesen und der dünne

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