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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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erzählen könne, nur aufgeworfen, um zu gestehen, daß wir mit laufender Geschichte wirklich dergleichen vorhaben. Und wenn wir die weitere Frage streiften, ob die um uns Versammelten sich noch ganz im klaren darüber seien, wie lange es gegenwärtig her ist, daß der unterdessen verstorbene ehrliebende Joachim jene Bemerkung über Musik und Zeit ins Gespräch flocht (die übrigens von einer gewissen alchimistischen Steigerung seines Wesens zeugt, da solche Bemerkungen eigentlich nicht in seiner braven Natur lagen), – so wären wir wenig erzürnt gewesen, zu hören, daß man sich wirklich im Augenblick nicht mehr so recht im klaren darüber sei: wenig erzürnt, ja zufrieden aus dem einfachen Grunde, weil die allgemeine Teilnahme an dem Erleben unseres Helden natürlich in unserem Interesse liegt, und weil dieser, Hans Castorp, in beregtem Punkte durchaus nicht ganz fest war, und zwar schon längst nicht mehr. Das gehört zu seinem Roman, einem Zeitroman, – so – und auch wieder so genommen.
    Wie lange Joachim eigentlich hier oben mit ihm gelebt, bis zu seiner wilden Abreise oder im ganzen genommen; wann, kalendermäßig, diese erste trotzige Abreise stattgefunden, wie lange er weggewesen, wann wieder eingetroffen und wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war; wie lange, um {819} Joachim beiseite zu lassen, Frau Chauchat ungegenwärtig gewesen, seit wann, etwa der Jahreszahl nach, sie
wieder da
war (denn sie war wieder da), und wieviel Erdenzeit Hans Castorp im »Berghof« damals verbracht gehabt hatte, als sie zurückgekehrt war: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hätte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, auch er selber nicht, denn er scheute sich wohl, sie sich vorzulegen, hätte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommelt und entschieden nicht recht Bescheid gewußt, – eine Erscheinung, nicht weniger beunruhigend als jene vorübergehende Unfähigkeit, die ihn am ersten Abend seines Hierseins befallen hatte, nämlich Herrn Settembrini sein eigenes Alter anzugeben, ja, eine Verschlimmerung dieses Unvermögens, denn er wußte nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei!
    Das mag abenteuerlich klingen, ist aber so weit entfernt, unerhört oder unwahrscheinlich zu sein, daß es vielmehr unter bestimmten Bedingungen jederzeit jedem von uns begegnen kann: nichts würde uns, solche Bedingungen vorausgesetzt, vor dem Versinken in tiefste Unwissenheit über den Zeitverlauf und also über unser Alter bewahren. Die Erscheinung ist möglich kraft des Fehlens jedes Zeitorgans in unserem Innern, kraft also unserer absoluten Unfähigkeit, den Ablauf der Zeit von uns aus und ohne äußeren Anhalt auch nur mit annähernder Zuverlässigkeit zu bestimmen. Bergleute, verschüttet, abgeschnitten von jeder Beobachtung des Wechsels von Tag und Nacht, veranschlagten bei ihrer glücklichen Errettung die Zeit, die sie im Dunklen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung zugebracht hatten, auf drei Tage. Es waren deren zehn gewesen. Man sollte meinen, daß in ihrer höchst beklommenen Lage die Zeit ihnen hätte lang werden müssen. Sie war ihnen auf weniger als ein Drittel ihres objektiven Umfanges zusammengeschrumpft. Es scheint demnach, daß unter verwirrenden Bedingungen die menschliche Hilflosigkeit eher geneigt ist, die Zeit in starker Verkürzung zu erleben, als sie zu überschätzen.
    {820} Niemand bestreitet nun freilich, daß Hans Castorp, wenn er gewollt hätte, ohne wirkliche Schwierigkeit aus dem Ungewissen sich rechnerisch hätte ins Klare setzen können, – ebenso, wie das der Leser mit leichter Mühe zu tun vermöchte, falls das Verschwommene und Versponnene seinem gesunden Sinn widerstehen sollte. Was Hans Castorp betraf, so war ihm vielleicht nicht gerade besonders wohl darin, allein irgendwelche Anstrengung, sich der Verschwommenheit und Versponnenheit zu entringen und sich klarzumachen, wie alt er hier schon geworden sei, ließ er sich’s auch nicht kosten; und die Scheu, die ihn daran hinderte, war eine Scheu seines Gewissens, – obgleich es doch offenbar die schlimmste Gewissenlosigkeit ist, der Zeit nicht zu achten.
    Wir wissen nicht, ob man es ihm zugute halten soll, daß die Umstände seinem Mangel an gutem Willen – wenn man nicht geradezu von seinem bösen Willen reden will – so sehr zustatten kamen. Als Frau Chauchat wiedergekehrt war (anders, als Hans Castorp es sich hatte träumen lassen –

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