Der Zauberberg
Archipels, Strychnos Tieuté genannt, aus der die Eingeborenen {876} unter Beigabe von Schlangengift das Upas-Radscha bereiteten, eine Droge, die, in die Blutbahn gebracht, z.B. durch Pfeilschuß, aufs allerschnellste den Tod herbeiführe, ohne daß jemand dem jungen Hans Castorp würde zu sagen wissen, wie das eigentlich geschähe. Nur so viel sei deutlich, daß das Upas in dynamischer Beziehung dem Strychnin nahe stehe … Und Peeperkorn, im Bette nun vollends aufgerichtet und dann und wann mit leicht zitternder Kapitänshand das Weinglas zu seinen zerrissenen Lippen führend, um große, durstige Züge zu nehmen, erzählte vom Krähenaugenbaum der Koromandelküste, aus dessen orangegelben Beeren, den »Krähenaugen«, das allerdynamischste Alkaloid, Strychnin geheißen, gewonnen werde, – erzählte mit flüsternd herabgesetzter Stimme und hochgezogener Stirnlineatur von dem aschgrauen Geäst, dem auffallend glänzenden Blätterwerk und den gelbgrünen Blüten dieses Baumes, so daß dem jungen Hans Castorp ein zugleich tristes und hysterisch-buntfarbiges Bild von einem Baume vor Augen stand und ihm alles in allem etwas unheimlich zumute wurde.
Auch mischte denn jetzt Frau Chauchat sich ein, indem sie sagte, es sei nicht gut, die Unterhaltung ermüde Peeperkorn, er könne aufs neue Fieber davon haben, und wie ungern immer sie die Entrevue unterbreche, so müsse sie Hans Castorp nun doch bitten, es für diesmal genug sein zu lassen. Das tat er natürlich, aber noch oft, nach einem Quartananfall, saß er in den nächsten Monaten an des königlichen Mannes Bett, während Frau Chauchat, das Gespräch leicht überwachend oder sich auch mit einigen Worten daran beteiligend, hin und wider ging; und auch in Peeperkorns fieberfreien Tagen verbrachte er manche Stunde mit ihm und seiner perlengeschmückten Reisebegleiterin. Denn wenn der Holländer nicht bettlägerig war, versäumte er selten, nach dem Diner eine kleine, wechselnd zusammengesetzte Auswahl der Berghof-Gästeschaft zu Spiel {877} und Wein und allerhand weiteren Labungen um sich zu versammeln, sei es im Konversationszimmer, wie das erstemal, oder im Restaurant, wobei denn Hans Castorp gewohnheitsmäßig seinen Platz zwischen der lässigen Frau und dem großartigen Manne hatte; und selbst im Freien bewegte man sich miteinander, machte Spaziergänge zusammen, an denen etwa die Herren Ferge und Wehsal sich beteiligten und bald auch Settembrini und Naphta, die Widersacher im Geiste, denen zu begegnen man nicht hatte verfehlen können, und die mit Peeperkorn, wie zugleich denn endlich auch mit Clawdia Chauchat bekannt zu machen, Hans Castorp sich geradezu glücklich schätzte, – vollständig unbekümmert darum, ob diese Bekanntschaft und Verbindung den Disputanten willkommen war oder nicht und in dem stillen Vertrauen darauf, daß sie eines pädagogischen Objektes bedurften und lieber einen unwillkommenen Anhang in Kauf nehmen, als darauf verzichten würden, ihre Gegensätze vor ihm auszutragen.
Er täuschte sich denn auch nicht darin, daß die Mitglieder seines buntscheckigen Freundeskreises sich wenigstens daran gewöhnen würden, daß sie sich nicht aneinander gewöhnten: Spannungen, Fremdheiten, sogar stille Feindseligkeit gab es selbstverständlich genug zwischen ihnen, und wir wundern uns selbst, wie es unserem unbedeutenden Helden gelingen mochte, sie um sich zusammenzuhalten, – wir erklären es uns mit einer gewissen verschmitzten Lebensfreundlichkeit seines Wesens, die ihn alles »hörenswert« finden ließ, und die man Verbindlichkeit selbst in dem Sinne nennen könnte, daß sie nicht nur ihm die ungleichartigsten Personen und Persönlichkeiten, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar diese untereinander verband.
Wunderlich hin und her laufende Beziehungen! Es reizt uns, ihre verschlungenen Fäden einen Augenblick allgemein sichtbar zu machen, so, wie Hans Castorp selbst sie auf diesen Spa {878} ziergängen verschmitzten und lebensfreundlichen Auges betrachtete. Da war der elende Wehsal, der Frau Chauchats schwelend begehrte und Peeperkorn und Hans Castorp niedrig verehrte, den einen um der herrschenden Gegenwart, den anderen um der Vergangenheit willen. Da war Clawdia Chauchat ihrerseits, die anmutig weich schreitende Kranke und Reisende, die Hörige Peeperkorns, und zwar gewiß aus Überzeugung, gleichwohl aber immer etwas beunruhigt und innerlich spitzig, den Ritter einer fernen Faschingsnacht auf so gutem Fuße mit ihrem Gebieter zu sehen.
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