Der Zauberberg
wird das Wort sein, das Sie suchen. Ich habe eine plastische Art zu sprechen, wollen Sie sagen. Aber halt!« rief er. »Was sehe ich! Dort wandeln unsere Höllenrichter! Welch ein Anblick!«
Die Spaziergänger hatten die Wegbiegung schon wieder zurückgelegt. War es den Reden Settembrinis, dem Gefälle der Straße zu danken, oder hatten sie sich in Wahrheit weniger weit vom Sanatorium entfernt, als Hans Castorp geglaubt hatte, – denn ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen –: jedenfalls war der Rückmarsch überraschend geschwind vonstatten gegangen. Settembrini hatte recht, es war das Ärztepaar, das dort unten auf dem freien Platz die Rückseite des Sanatoriums entlang strebte, voran der Hofrat im weißen Kittel, mit heraustretendem Genick und die Hände wie Ruder bewegend, auf seiner Fährte Dr. Krokowski im schwarzen Überhemd und desto selbstbewußter um sich blickend, als der klinische Brauch ihn nötigte, sich auf Dienstgängen hinter dem Chef zu halten.
»Ah, Krokowski!« rief Settembrini. »Dort geht er und weiß alle Geheimnisse unserer Damen. Man bittet, die feine Symbolik seiner Kleidung zu beachten. Er trägt sich schwarz, um anzudeuten, daß sein eigenstes Studiengebiet die Nacht ist. Dieser Mann hat in seinem Kopf nur einen Gedanken, und der ist schmutzig. Ingenieur, wie kommt es, daß wir von ihm noch gar nicht gesprochen haben! Sie haben seine Bekanntschaft gemacht?«
Hans Castorp bejahte.
»Nun, und? Ich fange an, zu vermuten, daß auch er Ihnen gefallen hat.«
»Ich weiß wirklich nicht, Herr Settembrini. Ich bin ihm nur erst flüchtig begegnet. Und dann bin ich auch nicht sehr rasch {100} von Urteil. Ich sehe mir die Leute an und denke: So bist du also? Nun gut.«
»Das ist Dumpfsinn!« antwortete der Italiener. »Urteilen Sie! Dafür hat die Natur Ihnen Augen und Verstand gegeben. Sie fanden, ich spräche boshaft; aber wenn ich es tat, so geschah es vielleicht nicht ohne pädagogische Absicht. Wir Humanisten haben alle eine pädagogische Ader … Meine Herren, der historische Zusammenhang von Humanismus und Pädagogik beweist ihren psychologischen. Man soll dem Humanisten das Amt der Erziehung nicht nehmen, – man kann es ihm nicht nehmen, denn nur bei ihm ist die Überlieferung von der Würde und Schönheit des Menschen. Einst löste er den Priester ab, der sich in trüben und menschenfeindlichen Zeiten die Führung der Jugend anmaßen durfte. Seitdem, meine Herren, ist schlechterdings kein neuer Erziehertyp mehr erstanden. Das humanistische Gymnasium, – nennen Sie mich rückschrittlich, Ingenieur, aber grundsätzlich, in abstracto, ich bitte, mich wohl zu verstehen, bleibe ich sein Anhänger …«
Noch im Lift führte er dies weiter aus und verstummte erst, als die Vettern im zweiten Stockwerk den Aufzug verließen. Er selber fuhr bis zum dritten weiter, wo er, wie Joachim erzählte, ein kleines Zimmer nach hinten hinaus bewohnte.
»Er hat wohl kein Geld?« fragte Hans Castorp, der Joachim begleitete. Es sah bei Joachim genau so aus wie drüben bei ihm.
»Nein,« sagte Joachim, »das hat er wohl nicht. Oder doch nur gerade so viel, um den Aufenthalt hier bestreiten zu können. Sein Vater war auch schon Literat, weißt du, und ich glaube, der Großvater auch.«
»Ja, dann«, sagte Hans Castorp. »Ist er denn eigentlich ernsthaft krank?«
»Es ist nicht gefährlich, soviel ich weiß, aber hartnäckig und kommt immer wieder. Er hat es schon seit Jahren und war zwischendurch mal fort, mußte aber bald wieder einrücken.«
{101} »Armer Kerl! Wo er doch so fürs Arbeiten zu schwärmen scheint. Riesig gesprächig ist er dabei, so leicht kommt er von einem aufs andere. Mit dem Mädchen war er ja etwas frech, es genierte mich momentan. Aber was er nachher von der menschlichen Würde sagte, klang doch famos, ganz wie bei einem Festakt. Bist du denn öfter mit ihm zusammen?«
Gedankenschärfe
Aber Joachim konnte nur noch behindert und undeutlich antworten. Er hatte aus einem rotledernen, mit Samt gefütterten Etui, das auf seinem Tische lag, ein kleines Thermometer genommen und das untere, mit Quecksilber gefüllte Ende in den Mund gesteckt. Links unter der Zunge hielt er es, so, daß ihm das gläserne Instrument schräg aufwärts aus dem Munde hervorragte. Dann machte er Haustoilette, zog Schuhe und eine litewkaartige Joppe an, nahm eine gedruckte Tabelle nebst Bleistift vom Tisch, ferner ein Buch, eine russische
Weitere Kostenlose Bücher