Der Zauberberg
Grammatik – denn er trieb Russisch, weil er, wie er sagte, dienstlichen Vorteil davon erhoffte –, und so ausgerüstet nahm er draußen auf dem Balkon im Liegestuhl Platz, indem er eine Kamelhaardecke nur leicht über die Füße warf.
Sie war kaum nötig: schon während der letzten Viertelstunde war die Wolkenschicht dünner und dünner geworden, und die Sonne brach durch, so sommerlich warm und blendend, daß Joachim seinen Kopf mit einem weißleinenen Schirm schützte, der vermittelst einer kleinen, sinnreichen Vorrichtung an der Armlehne des Stuhles zu befestigen und dem Stande der Sonne nach zu verstellen war. Hans Castorp lobte diese Erfindung. Er wollte das Ergebnis der Messung abwarten und sah unterdessen zu, wie alles gemacht wurde, betrachtete auch den Pelzsack, der in einem Winkel der Loggia lehnte (Joachim bediente sich seiner an kalten Tagen) und blickte, die Ellenbogen auf der {102} Brüstung, in den Garten hinab, wo die allgemeine Liegehalle nun von lesend, schreibend und plaudernd ausgestreckten Patienten bevölkert war. Übrigens sah man nur einen Teil des Inneren, etwa fünf Stühle.
»Aber wie lange dauert denn das?« fragte Hans Castorp und wandte sich um.
Joachim hob sieben Finger empor.
»Die müssen doch um sein – sieben Minuten!«
Joachim schüttelte den Kopf. Etwas später nahm er das Thermometer aus dem Mund, betrachtete es und sagte dabei:
»Ja, wenn man ihr aufpaßt, der Zeit, dann vergeht sie sehr langsam. Ich habe das Messen, viermal am Tage, ordentlich gern, weil man doch dabei merkt, was das eigentlich ist: eine Minute oder gar ganze sieben, – wo man sich hier die sieben Tage der Woche so gräßlich um die Ohren schlägt.«
»Du sagst ›eigentlich‹. ›Eigentlich‹ kannst du nicht sagen«, entgegnete Hans Castorp. Er saß mit einem Schenkel auf der Brüstung, und das Weiße seiner Augen war rot geädert. »Die Zeit ist doch überhaupt nicht ›eigentlich‹. Wenn sie einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist, das weiß doch niemand.« Er war durchaus nicht gewohnt, zu philosophieren und fühlte dennoch den Drang dazu.
Joachim widersprach.
»Wieso denn. Nein. Wir messen sie doch. Wir haben doch Uhren und Kalender, und wenn ein Monat um ist, dann ist er für dich und mich und uns alle um.«
»Dann paß auf«, sagte Hans Castorp und hielt sogar den Zeigefinger neben seine trüben Augen. »Eine Minute ist also so lang, wie sie dir vorkommt, wenn du dich mißt?«
»Eine Minute ist so lang … sie
dauert
so lange, wie der Sekundenzeiger braucht, um seinen Kreis zu beschreiben.«
»Aber er braucht ja ganz verschieden lange – für unser Ge {103} fühl! Und tatsächlich … ich sage: tatsächlich genommen«, wiederholte Hans Castorp und drückte den Zeigefinger so fest gegen die Nase, daß er ihre Spitze vollständig umbog, »ist das eine Bewegung, eine räumliche Bewegung, nicht wahr? Halt, warte! Wir messen also die Zeit mit dem Raume. Aber das ist doch ebenso, als wollten wir den Raum an der Zeit messen, – was doch nur ganz unwissenschaftliche Leute tun. Von Hamburg nach Davos sind zwanzig Stunden, – ja, mit der Eisenbahn. Aber zu Fuß, wie lange ist es da? Und in Gedanken? Keine Sekunde!«
»Hör mal,« sagte Joachim, »was hast du denn? Ich glaube, es greift dich an hier bei uns?«
»Sei still! Ich bin sehr scharf im Kopf heute. Was ist denn die Zeit?« fragte Hans Castorp und bog seine Nasenspitze so gewaltsam zur Seite, daß sie weiß und blutleer wurde. »Willst du mir das mal sagen? Den Raum nehmen wir doch mit unseren Organen wahr, mit dem Gesichtssinn und dem Tastsinn. Schön. Aber welches ist denn unser Zeitorgan? Willst du mir das mal eben angeben? Siehst du, da sitzt du fest. Aber wie wollen wir denn etwas messen, wovon wir genau genommen rein gar nichts, nicht eine einzige Eigenschaft auszusagen wissen! Wir sagen: die Zeit läuft ab. Schön, soll sie also mal ablaufen. Aber um sie messen zu können … warte! Um meßbar zu sein, müßte sie doch
gleichmäßig
ablaufen, und wo steht denn das geschrieben, daß sie das tut? Für unser Bewußtsein tut sie es nicht, wir nehmen es nur der Ordnung halber an, daß sie es tut, und unsere Maße sind doch bloß Konvention, erlaube mir mal …«
»Gut,« sagte Joachim, »dann ist es wohl auch bloß Konvention, daß ich hier vier Striche zuviel habe auf meinem Thermometer! Aber wegen dieser fünf Striche
Weitere Kostenlose Bücher