Der Zauberberg
das recht bemerkenswert.
{950} »Wenn ich also sage: Streptos,« fing Behrens wieder an, »so dürfen Sie natürlich nicht an das bekannte schwere Krankheitsbild denken. Ob diese Kleinen von den Meinen sich überhaupt bei Ihnen angesiedelt haben, muß die baktereologische Blutuntersuchung zeigen. Aber ob Ihre Febrilität von ihnen herrührt, gesetzt, daß sie vorhanden sind, das lehrt dann erst die Wirkung der Streptovakzinkur, die wir diesfalls einzuleiten haben. Das ist der Weg, lieber Freund, und ich verspreche mir, wie gesagt, das Unvorhergesehenste davon. So langwierig Tuberkulose ist, so rasch können Erkrankungen dieser Art heute geheilt werden, und wenn Sie überhaupt auf die Einspritzungen reagieren, so sind Sie in sechs Wochen springgesund. Was sagen Sie nun? Ist der olle Behrens auf seinem Posten, he?«
»Es ist ja vorläufig nur eine Hypothese«, sagte Hans Castorp schlaff.
»Eine beweisbare Hypothese! Eine höchst fruchtbare Hypothese!« versetzte der Hofrat. »Sie werden sehen, wie fruchtbar sie ist, wenn auf unseren Kulturen die Kokken wachsen. Morgen nachmittag zapfen wir Sie an, Castorp; nach allen Regeln der Dorfbaderkunst lassen wir Sie zur Ader. Das ist ein Spaß für sich und kann allein schon für Körper und Seele die segensreichsten Effekte zeitigen …«
Hans Castorp erklärte sich zu der Diversion bereit und bedankte sich recht schön für das ihm gewidmete Augenmerk. Den Kopf gegen die Schulter geneigt, blickte er dem davonrudernden Hofrat nach. Die Ansprache des Chefs traf genau in einen kritischen Moment; Radamanth hatte Mienen und Stimmung des Berggastes ziemlich richtig gedeutet, und sein neues Unternehmen war bestimmt – ausdrücklich dazu bestimmt, die Absicht war gar nicht geleugnet worden –, den toten Punkt zu überwinden, auf den dieser Gast sich seit kurzem gelangt fand, wie eben aus seiner Mimik zu schließen war, die deutlich an diejenige des seligen Joachim erinnerte, zur Zeit, als gewisse wilde und trotzige Entschlüsse sich in ihm vorbereitet hatten.
{951} Es ist mehr zu sagen. Nicht nur er selbst, Hans Castorp, schien sich auf solchem toten Punkte angekommen, sondern ihm war, als ob es mit der Welt, mit allem, mit »dem Ganzen« eben diese Bewandtnis habe, oder vielmehr: er fand, daß es schwer sei, hier das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden. Seit dem exzentrischen Ende seiner Verbindung mit einer Persönlichkeit; seit der vielfältigen Bewegung, die dieses Ende über das Haus gebracht, und seit Clawdia Chauchats neuerlichem Ausscheiden aus der Gemeinschaft Derer hier oben, dem Lebewohl, das, beschattet von der Tragik großen Versagens, im Geiste ehrerbietiger Rücksicht, zwischen ihr und dem überlebenden Duzbruder ihres Herrn getauscht worden, – seit dieser Wende schien es dem jungen Mann, als sei es mit Welt und Leben nicht ganz geheuer; als stehe es auf eine besondere Weise und zunehmend schief und beängstigend darum; als habe ein Dämon die Macht ergriffen, der, schlimm und närrisch, zwar lange schon beträchtlichen Einfluß geübt, jetzt aber seine Herrschaft so zügellos offen erklärt habe, daß es wohl geheimnisvollen Schrecken einflößen und Fluchtgedanken nahelegen konnte, – der Dämon, des Name Stumpfsinn war.
Man wird urteilen, der Erzähler trage dick und romantisch auf, indem er den Namen des Stumpfsinns mit dem des Dämonischen in Verbindung bringe und ihm die Wirkung mystischen Grauens zuschreibe. Und dennoch fabeln wir nicht, sondern halten uns genau an unseres schlichten Helden persönliches Erlebnis, dessen Kenntnis uns auf eine Weise, die sich freilich der Untersuchung entzieht, gegeben ist, und das schlechthin den Beweis liefert, daß Stumpfsinn unter Umständen solchen Charakter gewinnen und solche Gefühle einflößen kann. Hans Castorp blickte um sich … Er sah durchaus Unheimliches, Bösartiges, und er wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.
{952} Geschäftigkeit herrschte darin, Betätigungen von allerlei Art liefen nebeneinander her; doch dann und wann artete eine davon zur wilden Modewut aus, der alles fanatisch unterlag. So hatte die Liebhaberphotographie von jeher in der Berghofwelt eine bedeutende Rolle gespielt; schon zweimal aber – denn wer lange genug hier oben verweilte, konnte die periodische Wiederkehr solcher Epidemien erleben – war die Leidenschaft dafür auf Wochen und Monate zur allgemeinen
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