Der Zauberberg
drehte das rätselhafte Ding zwischen den Fingern. Es war aus Stahl, Elfenbein, Gold und Kautschuk, sehr wunderlich anzusehen. Es zeigte zwei gebogene, stahlblanke Gabelzinken mit äußerst scharfen Spitzen, einen leicht gewundenen elfenbeinernen und mit Gold eingelegten Mittelteil, in dem die Zinken bis zu einem gewissen Grade und auf eine gewisse elastische Weise, nämlich nach innen, beweglich waren, und endete in einer ballonartigen Erweiterung aus halbstarrem schwarzem Gummi. Die Größe betrug nur ein paar Zoll.
»Was ist das?« fragte Hans Castorp.
»Das«, antwortete Behrens, »ist eine organisierte Injektionsspritze. Oder, anders herum aufgefaßt, eine mechanische Kopie des Beißzeugs der Brillenschlange. Sie verstehen? – Sie scheinen nicht zu verstehen«, sagte er, da Hans Castorp fortfuhr, benommen auf das bizarre Instrument niederzublicken. »Das sind die Zähne. Sie sind nicht ganz massiv, sie sind von einem Haarrohr, einem ganz feinen Kanal durchzogen, dessen Austritt Sie hier vorn etwas oberhalb der Spitzen ganz deutlich sehen können. Natürlich sind die Röhrchen auch hier an der Zahnwurzel offen, und da kommunizieren sie mit dem Ausführungsgang der Gummidrüse, der in dem elfenbeinernen Mittelteil verläuft. Beim Zubiß federn die Zähne etwas einwärts, das ist deutlich, und üben auf das Reservoir einen Druck, der den Inhalt in die Kanäle preßt, so daß in dem Augenblick, wo die Spitzen ins Fleisch fassen, die Dosis auch schon in die Blutbahn schießt. Es ist ganz einfach, wenn man es so vor Augen hat. Man muß nur darauf kommen. Wahrscheinlich ist es nach seinen persönlichen Angaben hergestellt.«
»Sicher!« sagte Hans Castorp.
»Die Ladung kann nicht sehr groß gewesen sein«, fuhr der {946} Hofrat fort. »Was sie an Quantität vermissen ließ, muß sie ersetzt haben durch –«
»Dynamik«, ergänzte Hans Castorp.
»Na also. Was es ist, das werden wir schon noch eruieren. Man darf dem Ergebnis mit einiger Neugier entgegensehen, es gibt da zweifellos was zu lernen. Wetten wir, daß der wachhabende Exot da hinten, der sich heute nacht so fein gemacht hat, uns ganz genau Bescheid sagen könnte? Ich nehme an, daß eine Kombination von Tierischem und Pflanzlichem vorliegt, – vom Guten das Beste jedenfalls, denn die Wirkung muß fulminant gewesen sein. Alles spricht dafür, daß es ihm sofort den Atem verschlagen hat, Lähmung des Respirationszentrums, wissen Sie, rapider Erstickungstod, wahrscheinlich ohne Zwang und Qualen.«
»Gott gebe es!« sagte Hans Castorp fromm, händigte dem Hofrat das unheimliche kleine Werkzeug seufzend wieder ein und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Nur der Malaie und Madame Chauchat waren jetzt dort noch anwesend. Diesmal hob Clawdia den Kopf nach dem jungen Mann, als er sich dem Bett wieder näherte.
»Sie hatten ein Anrecht darauf, daß ich Sie rufen ließ«, sagte sie.
»Es war sehr gütig von Ihnen«, sagte er, »und Sie haben recht. Wir waren Duzfreunde. Ich schäme mich in tiefster Seele, daß ich mich dessen schämte vor den Leuten und Umschweife gebrauchte. – Sie waren bei ihm in seinen letzten Augenblicken?«
»Der Diener benachrichtigte mich, als alles vorüber war«, antwortete sie.
»Er war von solchem Format«, fing Hans Castorp wieder an, »daß er das Versagen des Gefühls vor dem Leben als kosmische Katastrophe und als Gottesschande empfand. Denn er betrachtete sich als Gottes Hochzeitsorgan, müssen Sie wissen. Das war eine königliche Narretei … Wenn man ergriffen ist, hat man {947} den Mut zu Ausdrücken, die kraß und pietätlos klingen, aber feierlicher sind als konzessionierte Andachtsworte.«
»C’est une abdication«, sagte sie. »Er wußte von unserer Torheit?«
»Es war mir nicht möglich, sie ihm abzustreiten, Clawdia. Er hatte sie erraten aus meiner Weigerung, Sie in seiner Gegenwart auf die Stirn zu küssen. Seine Gegenwart ist eher symbolisch als real, in diesem Augenblick, aber wollen Sie mir erlauben, es jetzt zu tun?«
Sie rückte kurz den Kopf gegen ihn, die Augen geschlossen, wie mit einem kleinen Winken. Er führte die Lippen an ihre Stirn. Die braunen Tieraugen des Malaien überwachten die Szene seitwärts gerollt, so daß sie ihr Weißes zeigten.
Der große Stumpfsinn
Noch einmal hören wir Hofrat Behrens’ Stimme – horchen wir gut hin! Wir vernehmen sie vielleicht zum letztenmal! Einmal endigt selbst diese Geschichte; sie hat die längste Zeit gedauert, oder vielmehr: Ihre inhaltliche Zeit ist
Weitere Kostenlose Bücher