Der Zauberberg
den »toten Punkt« hinwegreißen und der »Sauregurkenzeit« einen schrecklichen Jüngsten Tag bereiten werde. Er hatte Lust zu fliehen, wir sagten es schon, – und ein Glück denn nur, daß die Obrigkeit das vorerwähnte »unverwandte Auge« auf ihn hatte, daß sie in seinen Mienen zu lesen verstand und auf seine Divertierung mit neuen, fruchtbaren Hypothesen bedacht war!
Korpsstudentischen Tonfalles hatte sie erklärt, den eigentlichen Ursachen der Unsolidität von Hans Castorps Wärmehaushalt auf der Spur zu sein, Ursachen, denen nach ihrer wissenschaftlichen Aussage so unschwer beizukommen sein würde, daß Heilung, legitime Entlassung ins Flachland plötzlich in nahe Aussicht gerückt schienen. Des jungen Mannes Herz schlug hoch, von mannigfachen Empfindungen bestürmt, als er zum Aderlasse den Arm hinstreckte. Blinzelnd und leicht erblassend bewunderte er das herrliche Rubinrot seines Lebenssaftes, der steigend den klaren Behälter füllte. Der Hofrat selbst, assistiert von Doktor Krokowski und einer Barmherzigen Schwester, vollzog die kleine, aber weittragende Operation. {962} Danach verging eine Reihe von Tagen, beherrscht für Hans Castorp von der Frage, wie das Hingegebene, außerhalb seiner, unter den Augen der Wissenschaft sich bewähren werde.
Es habe natürlich noch nichts gedeihen können, sagte der Hofrat am Anfang. Es habe leider noch nichts gedeihen wollen, sagte er später. Aber der Morgen kam, wo er, während des Frühstücks, zu Hans Castorp trat, der zu dieser Zeit am Guten Russentisch seinen Platz hatte, am oberen Ende, dort, wo dereinst sein großer Duzbruder gesessen, und ihm unter redensartlichen Glückwünschen eröffnete, der Kettenkokkus sei nun doch in einer der angelegten Kulturen zweifelsfrei festgestellt. Ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung sei es denn nun, ob die Vergiftungserscheinungen auf die jedenfalls bestehende kleine Tuberkulose oder auf die Streptos, die ja auch nur in bescheidenem Maße vorhanden, zurückzuführen seien. Er, Behrens, müsse sich die Sache näher und länger besehen. Noch sei die Kultur nicht ausgewachsen. – Er zeigte sie ihm im »Labor«: ein rotes Blutgelee, worin man graue Pünktchen gewahrte. Das waren die Kokken. (Kokken jedoch hatte jeder Esel, wie auch Tuberkeln, und hätte man nicht die Symptome gehabt, so wäre auf diesen Befund nicht weiter Gewicht zu legen gewesen.)
Außerhalb seiner, unter den Augen der Wissenschaft, fuhr Hans Castorps geronnenes Herzblut fort, sich zu bewähren. Es kam der Morgen, da der Hofrat mit redensartlich bewegten Worten berichtete: Nicht nur auf der einen Kultur, sondern auch auf allen übrigen seien nachträglich noch Kokken gewachsen, und zwar in großen Mengen. Ungewiß, ob es alles Streptos seien; mehr als wahrscheinlich nun aber, daß die Vergiftungserscheinungen daher rührten, – wenn man auch freilich nicht wissen könne, wieviel davon auf Rechnung der zweifellos vorhanden gewesenen und nicht ganz überwundenen Tuberkulose zu setzen sei. Die zu ziehende Schlußfolgerung? {963} Eine Streptovakzinkur! Die Prognose? Außerordentlich günstig – zumal der Versuch jedes Risikos entbehre, auf keinen Fall schaden könne. Denn da das Serum ja aus Hans Castorps eigenem Blute hergestellt werde, so werde mit der Injektion kein Krankheitsstoff in den Körper eingeführt, der nicht schon darin sei. Schlimmstenfalls würde sie nutzlos sein, Null im Effekt – aber ob man denn das, da Patient ja ohnedies bleiben müsse, als einen schlimmen Fall bezeichnen könne!
Nicht doch, so weit wollte Hans Castorp nicht gehen. Er unterwarf sich der Kur, obgleich er sie ridikül und ehrlos fand. Diese Impfungen mit sich selbst wollten ihm als eine abscheulich freudlose Diversion erscheinen, als ein inzestuöser Greuel von Ich zu Ich, frucht- und hoffnungslos in seinem Wesen. So urteilte seine hypochondrische Unbelehrtheit, die nur im Punkte der Unfruchtbarkeit – und in diesem freilich vollkommen – recht behielt. Die Diversion erstreckte sich über Wochen. Sie schien zuweilen zu schaden – was selbstverständlich auf Irrtum beruhen mußte –, zuweilen auch zu nützen, was sich dann aber gleichfalls als Irrtum herausstellte. Das Ergebnis war Null, ohne bei Namen genannt und ausdrücklich verkündigt zu werden. Die Unternehmung verlief im Sande, und Hans Castorp fuhr fort, Patience zu legen – Aug’ in Auge mit dem Dämon, dessen zügelloser Herrschaft für sein Gefühl ein Ende mit Schrecken
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