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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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sondern als Spender des Genusses betrachten wollte. Persönlich neigte er {973} zu dieser Auffassung, und die Hausgesellschaft bewilligte sie ihm in dem Sinne, daß sie seiner entschlossenen Selbsteinsetzung als Verwalter und Kustos der öffentlichen Einrichtung von Anfang an stillschweigend zustimmte. Das kostete diese Leute nichts; denn ungeachtet ihres oberflächlichen Entzükkens, wenn jener tenorale Abgott in Schmelz und Glanz schwelgte, die weltbeglückende Stimme in Kantilenen und hohen Künsten der Leidenschaft sich verströmte, – trotz dieses laut bekundeten Entzückens waren sie ohne Liebe und darum völlig einverstanden, jedem, der da wollte, die Sorge zu lassen. Hans Castorp war es, der den Plattenschatz in Ordnung hielt, den Inhalt der Alben auf die Innenseite der Deckel schrieb, so daß ein jegliches Stück auf Wunsch und Anruf sofort zur Hand war, und der das Instrument handhabte: Man sah es ihn mit bald geübten, knappen und zarten Bewegungen tun. Was hätten auch die anderen gemacht? Sie hätten die Platten geschändet, indem sie sie mit abgenutzten Nadeln bearbeiteten, hätten sie offen auf Stühlen herumliegen lassen, mit dem Apparat stumpfen Jux getrieben, indem sie ein edles Stück mit Tempo und Tonhöhe hundertundzehn laufen ließen oder auch den Zeiger auf Null einstellten, so daß es ein hysterisches Tirili oder ein versacktes Stöhnen ergab … Sie hatten das alles schon getan. Sie waren zwar krank, aber roh. Und darum trug Hans Castorp nach kurzer Zeit den Schlüssel des Schränkchens, worin die Alben und Nadeln aufbewahrt wurden, einfach in der Tasche, so daß man ihn rufen mußte, wenn man aufgespielt haben wollte.
    Spät, nach der Abendgeselligkeit, nach Abzug der Menge, war seine beste Zeit. Dann blieb er im Salon oder kehrte heimlich dorthin zurück und musizierte allein bis tief in die Nacht. Die Ruhe des Hauses damit zu stören, brauchte er weniger zu fürchten, als er anfangs geglaubt hatte tun zu müssen, denn die Tragkraft seiner Geistermusik hatte sich ihm als von geringer {974} Reichweite erwiesen: so Staunenswertes die Schwingungen nahe ihrem Ursprung bewirkten, so bald ermatteten sie, schwach und scheinmächtig wie alles Geisterhafte, ferner von ihm. Hans Castorp war allein mit den Wundern der Truhe in seinen vier Wänden, – mit den blühenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens, vor dessen offener Flügeltür er im Sessel saß, die Hände gefaltet, den Kopf auf der Schulter, den Mund geöffnet, und sich von Wohllaut überströmen ließ.
    Die Sänger und Sängerinnen, die er hörte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg, – sie mochte dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, und namentlich soweit es sich um Landsleute, um Deutsche handelte, eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten. Die Aussprache, der Dialekt, die engere Landsmannschaft der Künstler war zu unterscheiden, ihr Stimmcharakter sagte etwas aus über des Einzelnen seelischen Wuchs, und daran, wie sie geistige Wirkungsmöglichkeiten nutzten oder versäumten, erwies sich die Stufe ihrer Intelligenz. Hans Castorp ärgerte sich, wenn sie es fehlen ließen. Er litt auch und biß sich auf die Lippen vor Scham, wenn Unvollkommenheiten der technischen Wiedergabe mit unterliefen, saß wie auf Kohlen, wenn im Lauf einer oft zitierten Platte ein Gesangston scharf oder gröhlend verlautete, was namentlich bei den heiklen Frauenstimmen so leicht sich ereignete. Doch nahm er das in den Kauf, denn Liebe muß leiden. Zuweilen beugte er sich über das Spielwerk, das atmend kreiste, wie über einen Fliederstrauß, den Kopf in einer Klangwolke; stand vor dem offenen Schrein, das Herrscherglück des Dirigenten kostend, indem er mit aufgehobener Hand einer Trompete den pünkt {975} lichen Einsatz gab. Er hatte Lieblinge in seinem Magazin, einige Vokal- und Instrumentalnummern, die zu hören er niemals satt wurde. Wir mögen nicht unterlassen, sie anzuführen.
    Eine kleine Gruppe von Platten bot die Schlußszenen des pompösen, von melodiösem Genie überquellenden Opernwerks, das ein großer Landsmann des Herrn Settembrini, der Altmeister der dramatischen Musik des Südens, in der zweiten Hälfte des vorigen

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