Der Zauberberg
zu etwas Viertem über, etwas sehr Liebem und Gutem.
Daß es wieder etwas Französisches war, ist so wenig unsere Schuld, wie es auf unsere Rechnung kommt, daß auch wieder militärischer Geist obwaltete. Es war eine Einlage, eine Solo-Gesangsnummer, ein »Gebet« aus der Faust-Oper von Gounod. Jemand trat auf, jemand Erz-Sympathisches, der Valentin hieß, den aber Hans Castorp im Stillen anders nannte, mit einem vertrauteren, wehmutsvollen Namen, dessen Träger er in hohem Grade mit der aus dem Kasten laut werdenden Person identifizierte, obgleich diese eine viel schönere Stimme hatte. Es war ein starker und warmer Bariton, und sein Gesang war dreiteilig; er bestand aus zwei miteinander nahverwandten Eckstrophen, die frommen Charakters, ja, fast im Stile des protestantischen Chorals gehalten waren, und einer Mittelstrophe keck-chevaleresken Mutes, kriegerisch, leichtsinnig, dabei aber ebenfalls fromm; und das war eigentlich das Französisch-Militärische daran. Der Unsichtbare sang:
{985}
»Da ich nun verlassen soll
mein geliebtes Heimatland« –
und er wandte unter diesen Umständen sein Flehen zum Herrn des Himmels, daß er ihm unterdessen das holde Schwesterblut schützen möge! Es ging in den Krieg, der Rhythmus sprang um, wurde unternehmend, Gram und Sorge mochten zum Teufel fahren, er, der Unsichtbare wollte sich dort, wo die Schlacht am heißesten, die Gefahr am größten war, keck, fromm und französisch dem Feinde entgegenwerfen. Wenn ihn aber Gott zu Himmelshöhen rufe, sang er, dann wolle er schützend von dort auf »dich« herniedersehen. Mit diesem »dich« war das Schwesterblut gemeint; aber es rührte Hans Castorp trotzdem in tiefster Seele, und diese seine Ergriffenheit ließ nicht nach bis zum Schluß, wo der Brave dort drinnen zu mächtigen Choralakkorden sang:
»O Herr des Himmels, hör mein Flehn,
in deinem Schutz laß Margarethe stehn!«
Weiter war es nichts mit dieser Platte. Wir glaubten, kurz von ihr reden zu sollen, weil Hans Castorp sie so ausnehmend gern hatte, dann aber auch, weil sie bei späterer, seltsamer Gelegenheit noch eine gewisse Rolle spielte. Für jetzt kommen wir auf ein fünftes und letztes Stück aus der Gruppe der engeren Favoriten, – welches nun freilich gar nichts Französisches mehr war, sondern etwas sogar besonders und exemplarisch Deutsches, auch nichts Opernhaftes, sondern ein Lied, eines jener Lieder, – Volksgut und Meisterwerk zugleich und eben durch dieses Zugleich seinen besonderen geistig-weltbildlichen Stempel empfangend … Wozu die Umschweife? Es war Schuberts »Lindenbaum«, es war nichts anderes, als dies allvertraute »Am Brunnen vor dem Tore«.
Ein Tenorist trug es vor zum Klavier, ein Bursche von Takt {986} und Geschmack, der seinen zugleich simplen und gipfelhohen Gegenstand mit vieler Klugheit, musikalischem Feingefühl und rezitatorischer Umsicht zu behandeln wußte. Wir alle wissen, daß das herrliche Lied im Volks- und Kindermunde etwas anders lautet, denn als Kunstgesang. Dort wird es meist, vereinfacht, nach der Hauptmelodie strophisch durchgesungen, während diese populäre Linie im Original schon bei der zweiten der achtzeiligen Strophen in Moll variiert, um beim fünften Vers, überaus schön, wieder in Dur einzulenken, bei den darauf folgenden »kalten Winden« aber und dem vom Kopfe fliegenden Hute dramatisch aufgelöst wird und sich erst bei den letzten vier Versen der dritten Strophe wiederfindet, die wiederholt werden, damit die Weise sich aussingen könne. Die eigentlich bezwingende Wendung der Melodie erscheint dreimal und zwar in ihrer modulierenden zweiten Hälfte, das drittemal also bei der Reprise der letzten Halbstrophe »Nun bin ich manche Stunde«. Diese zauberhafte Wendung, der wir mit Worten nicht zu nahe treten mögen, liegt auf den Satzfragmenten »So manches liebe Wort«, »Als riefen sie mir zu«, »Entfernt von jenem Ort«, und die helle und warme, atemkluge und zu einem maßvollen Schluchzen geneigte Stimme des Tenoristen sang sie jedesmal mit so viel intelligentem Gefühl für ihre Schönheit, daß sie dem Zuhörer auf ungeahnte Weise ans Herz griff, zumal der Künstler seine Wirkung durch außerordentlich innige Kopftöne bei den Zeilen »Zu
ihm
mich immerfort«, »Hier
findst
du deine Ruh« zu steigern wußte. Beim wiederholten letzten Verse aber, diesem »Du fändest Ruhe dort!« sang er das »fändest« das erstemal aus voller, sehnsüchtiger Brust und erst das zweitemal wieder als zartestes
Weitere Kostenlose Bücher