Der Zauberberg
»Rückneigung« in gewisse Welten hatte zuteil werden lassen, und er fand es ratsam, diese Unterweisung mit Vorsicht auf seinen Gegenstand zu beziehen. Herr Settembrini hatte das Phänomen jener Rückneigung als »Krankheit« bezeichnet, – das Weltbild selbst, die Geistesepoche, der die Rückneigung galt, mochte seinem pädagogischen Sinn wohl als »krankhaft« erscheinen. Wie denn nun aber! Hans Castorps holdes Heimwehlied, die Gemütssphäre, der es angehörte, und die Liebesneigung zu dieser Sphäre sollten – »krank« sein? Mit nichten! Sie waren das Gemütlich-Gesundeste auf der Welt. Allein das war eine Frucht, die, frisch und prangend gesund diesen Augenblick oder eben noch, außerordentlich zu Zersetzung und Fäulnis neigte, und, reinste Labung des Gemütes, wenn sie im rechten Augenblicke genossen wurde, vom nächsten unrechten Augenblicke an Fäulnis und Verderben in der genießenden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todesträchtig. Es war ein Wunder der Seele, – das höchste vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schönheit und gesegnet von ihr, jedoch mit Mißtrauen betrachtet aus triftigen Gründen vom Auge verantwortlich regierender Lebensfreundschaft, der Liebe zum Organischen, und Gegenstand der Selbstüberwindung nach letztgültigem Gewissensspruch.
Ja, Selbstüberwindung, das mochte wohl das Wesen der Überwindung dieser Liebe sein, – dieses Seelenzaubers mit fin {990} steren Konsequenzen! Hans Castorps Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, während er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß, – sie gingen höher, als sein Verstand reichte, es waren alchimistisch gesteigerte Gedanken. O, er war mächtig, der Seelenzauber! Wir alle waren seine Söhne, und Mächtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten. Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent, als der Autor des Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu irdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank, – in welchen das Lied zur elektrischen Grammophonmusik verdarb. Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das
neue
Wort der Liebe, das er noch nicht zu sprechen wußte. Es war so wert, dafür zu sterben, das Zauberlied! Aber wer dafür starb, der starb schon eigentlich nicht mehr dafür und war ein Held nur, weil er im Grunde schon für das Neue starb, das neue Wort der Liebe und der Zukunft in seinem Herzen – –
Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten.
Fragwürdigstes
Mit Edhin Krokowskis Konferenzen hatte es im Laufe der Jährchen eine unerwartete Wendung genommen. Immer hatten seine Forschungen, die der Seelenzergliederung und dem menschlichen Traumleben galten, einen unterirdischen und katakombenhaften Charakter getragen; neuerdings aber, in gelindem, der Öffentlichkeit kaum merklichem Übergang, hatten sie die Richtung ins Magische, durchaus Geheimnisvolle eingeschlagen, und seine vierzehntägigen Vorträge im {991} Speisesaal, Hauptattraktion des Hauses, Stolz des Prospektes, – diese Vorträge, gehalten in Gehrock und Sandalen, hinter gedecktem Tischchen und mit exotisch schleppenden Akzenten vor dem unbeweglich lauschenden Berghofpublikum, sie handelten nicht mehr von verkappter Liebesbetätigung und Rückverwandlung der Krankheit in den bewußt gemachten Affekt, sie handelten von den profunden Seltsamkeiten des Hypnotismus und Somnambulismus, den Phänomenen der Telepathie, des Wahrtraums und des Zweiten Gesichtes, den Wundern der Hysterie, bei deren Erörterung der philosophische Horizont sich derart weitete, daß auf einmal solche Rätsel dem Auge der Zuhörer erschimmerten, wie das des Verhältnisses der Materie zum Psychischen, ja dasjenige des Lebens selbst, welchem beizukommen auf unheimlichstem, auf krankhaftem Wege, wie es scheinen mochte, mehr Hoffnung war, als auf dem der Gesundheit …
Wir sagen dies, weil wir es für unsere Pflicht halten, leichtfertige Geister zu beschämen, die wissen wollten, Dr. Krokowski habe sich nur aus der Sorge, seine Vorträge vor heilloser Monotonie zu bewahren, zu rein emotionellen Zwecken also, dem Verborgenen zugewandt. So sprachen Lästerzungen, an denen es nirgends fehlt. Es ist wahr, daß bei den
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