Der Zauberberg
und wolle fort. Gut denn, fort mit ihm! Hier sein Helm, sein Säbel und Gehänge! Machen, machen, machen solle er, daß er in die Kaserne komme! – Er bat um Erbarmen. Aber sie fuhr fort in ihrem glühenden Hohn, indem sie tat, als sei sie er, der beim Schall der Hörner sein bißchen Verstand verloren habe. Traterata, zum Appell! Barmherziger Himmel, er werde noch zu spät kommen! Nur fort, denn es rufe ja zum Appelle, und da störe er selbstverständlich auf wie ein Narr, in dem Augenblick, wo sie, Carmen, für ihn habe tanzen wollen. Das, das, das sei seine Liebe zu ihr! –
Qualvolle Lage! Sie verstand nicht. Das Weib, die Zigeunerin konnte und wollte nicht verstehen. Sie wollte es nicht, – denn ohne jeden Zweifel: in ihrer Wut, ihrem Hohn war etwas über den Augenblick und das Persönliche Hinausgehende, ein Haß, eine Urfeindschaft gegen das Prinzip, das durch diese französischen Clairons – oder spanischen Hörner – nach dem verliebten kleinen Soldaten rief, und über das zu triumphieren ihr höchster, eingeborener, überpersönlicher Ehrgeiz war. Sie besaß ein sehr einfaches Mittel dazu: Sie behauptete, wenn er gehe, so liebe er sie nicht; und das war genau das, was zu hören José dort drinnen im Kasten nicht ertrug. Er beschwor sie, ihn zu Worte kommen zu lassen. Sie wollte nicht. Da zwang er sie – es war ein verteufelt ernster Moment. Fatale Klänge lösten sich aus dem Orchester, ein düster drohendes Motiv, das sich, wie Hans Castorp wußte, durch die ganze Oper bis zum katastrophalen Ausgang zog und auch die Einleitung zu des kleinen Soldaten Arie bildete, der neuen Platte, die nun einzulegen war.
»Hier an dem Herzen treu geborgen« – José sang das wunderschön; Hans Castorp ließ die Scheibe auch einzeln, außer dem vertrauten Zusammenhange öfters laufen und lauschte {983} stets in achtsamster Sympathie. Es war inhaltlich nicht weit her mit der Arie, aber ihr flehender Gefühlsausdruck war im höchsten Grade rührend. Der Soldat sang von der Blume, die Carmen ihm am Anfang ihrer Bekanntschaft zugeworfen, und die im schweren Arrest, worein er um ihretwillen geraten, sein ein und alles gewesen sei. Er gestand tief erschüttert, er habe augenblicksweise dem Schicksal geflucht, weil es zugelassen hatte, daß er Carmen je mit Augen gesehen. Aber gleich habe er die Lästerung bitter bereut und auf den Knien zu Gott um ein Wiedersehen gebetet.
Da
– und dies Da war der gleiche hohe Ton, mit dem er unmittelbar vorher sein »Ach, teures Mädchen« begonnen, –
da
– und nun war in der Begleitung aller Instrumentalzauber los, der nur irgend geeignet sein mochte, den Schmerz, die Sehnsucht, die verlorene Zärtlichkeit, die süße Verzweiflung des kleinen Soldaten zu malen, –
da
hatte sie vor seinen Blicken gestanden in all ihrem schlechthin verhängnishaften Reiz, so daß er klar und deutlich das eine gefühlt hatte, daß es »um ihn getan« (»getan« mit einem schluchzenden ganztönigen Vorschlag auf der ersten Silbe), auf immer also um ihn getan sei. »Du meine Wonne, mein Entzücken!« sang er verzweifelt in einer wiederkehrenden und auch vom Orchester noch einmal auf eigene Hand geklagten Tonfolge, die vom Grundton zwei Stufen aufstieg und sich von dort mit Innigkeit zur tieferen Quinte wandte. »Dein ist mein Herz«, beteuerte er abgeschmackter, aber allerzärtlichster Weise zum Überfluß, indem er sich ebendieser Figur bediente, ging dann die Tonleiter bis zur sechsten Stufe durch, um hinzuzufügen: »Und ewig dir gehör ich an!«, ließ danach die Stimme um zehn Töne sinken und bekannte erschüttert sein »Carmen, ich liebe dich!«, dessen Ausklang von einem wechselnd harmonisierten Vorhalt schmerzlich verzögert wurde, bevor das »dich« mit der vorhergehenden Silbe sich in den Grundakkord ergab.
»Ja, ja!« sagte Hans Castorp schwergemut und dankbar und {984} legte auch noch das Finale ein, wo alle den jungen José dazu beglückwünschten, daß ihm durch das Renkontre mit dem Offizier der Rückweg abgeschnitten war, so daß er nun fahnenflüchtig werden mußte, wie Carmen es zu seinem Entsetzen schon vorher von ihm verlangt hatte.
»O folg uns in felsige Klüfte,
wilder, doch rein wehen dort die Lüfte –«
sangen sie ihm im Chor, – man konnte sie ganz gut verstehen.
»Offen die Welt – nicht Sorgen drücken;
unbegrenzt dein Vaterland;
und voran: das seligste Entzücken,
die Freiheit lacht! Die Freiheit lacht!«
»Ja, ja!« sagte er abermals und ging
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