Der Zauberberg
verraten? – Ja, die Schattenlippen liebkosend an ihrem Ohr, so daß es leise kitzelte und zum Lächeln reizte, habe er es ihr eingeflüstert. – Das müsse angenehm gewesen sein, wenn Holger ihr früher in der Schule die Antworten eingesagt habe, wenn sie nicht vorbereitet gewesen sei. – Hierauf hatte Ellen geschwiegen. Das habe Holger wohl nicht gedurft, sagte sie später. In so ernste Dinge sich einzumischen, sei ihm verwehrt, und übrigens habe er die Schulantworten wohl selber nicht recht gewußt.
Ferner stellte sich heraus, daß Ellen von jung auf, wenn auch in größeren Zeitabständen, Erscheinungen gehabt hatte, – sichtbare und unsichtbare. – Was das denn heißen solle: unsichtbare Erscheinungen? – Zum Beispiel so. Sie hatte als sechzehnjähriges Mädchen allein im Wohnzimmer ihres Elternhauses gesessen, am runden Tisch mit einer Handarbeit, am hellen Nachmittag, und neben ihr auf dem Teppich hatte ihres Vaters Dogge, die Hündin Freia, gelegen. Der Tisch war mit {999} einer bunten Decke, einem solchen türkischen Schal, wie alte Frauen ihn dreieckig trugen, bedeckt gewesen: übereck, mit kurz hängenden Zipfeln hatte er auf der Platte gelegen. Und plötzlich hatte Ellen gesehen, wie der Zipfel ihr gegenüber sich langsam aufgerollt hatte: still, sorgfältig und regelmäßig war er aufgerollt worden, ein gutes Stück gegen die Mitte der Tischplatte hin, so daß die Rolle schließlich schon ziemlich lang gewesen war; und während dies geschehen, hatte Freia, wild auffahrend, mit angestemmten Vorderbeinen und gesträubtem Fell sich auf die Keulen gesetzt, war heulend ins Nebenzimmer gestürzt, unter das Sofa gekrochen und dann ein volles Jahr lang nicht zu bewegen gewesen, einen Fuß ins Wohnzimmer zu setzen.
Ob es Holger gewesen sei, fragte Fräulein Kleefeld, der die Schaldecke aufgerollt habe. – Die kleine Brand wußte es nicht. – Und was sie sich bei dem Vorkommnis denn wohl gedacht habe. – Aber da es absolut unmöglich war, sich das Allergeringste dabei zu denken, so hatte auch Elly sich weiter nichts dabei gedacht. – Ob sie es ihren Eltern berichtet habe. – Nein. – Das war seltsam. Obgleich sich so ganz und gar nichts dabei denken ließ, hatte Elly doch das Gefühl gehabt, in diesem Fall und in ähnlichen, daß sie es für sich behalten und ein strenges, schamhaftes Geheimnis daraus machen müsse. – Ob sie denn schwer daran getragen habe. – Nein, nicht besonders schwer. Was denn auch an dem Sich-Aufrollen einer Decke viel zu tragen sei. Aber an anderem habe sie schwerer getragen. Zum Beispiel hieran:
Vor einem Jahre, ebenfalls in ihrem Elternhaus zu Odense, hatte sie frühmorgens, in aller Frische, ihr Zimmer verlassen, das im Erdgeschoß gelegen war, und sich über die Diele die Treppe hinauf ins Eßzimmer begeben wollen, um, wie es ihre Gewohnheit war, Kaffee zu kochen, bevor die Eltern sich einfanden. Fast bis zum Podest, wo die Treppe sich wandte, war sie {1000} schon gelangt gewesen, da hatte sie auf eben diesem Podest, am Rande desselben, dicht an den Stufen, ihre in Amerika verheiratete ältere Schwester Sophie stehen sehen – leiblich und wirklich. Sie hatte ein weißes Kleid angehabt und sonderbarerweise einen Kranz von Wasserrosen, schilfigen Mummeln, auf dem Kopf getragen und die Hände an der Schulter gefaltet und hatte ihr zugenickt. »Ja, aber, Sophie, bist du da?« hatte die angewurzelte Ellen halb freudig und halb erschrocken gefragt. Da hatte Sophie noch einmal genickt und sich darnach verflüchtigt. Sie war durchsichtig geworden; bald war sie nur in dem Grade noch sichtbar gewesen, wie eine fließende Strömung heißer Luft, und dann überhaupt nicht mehr, so daß der Weg frei gewesen war für Ellen. Doch dann hatte sich erwiesen, daß in dieser selbigen Morgenstunde Schwester Sophie in New-Jersey an Herzentzündung gestorben war.
Nun, meinte Hans Castorp, als die Kleefeld es ihm erzählte, das habe doch einigen Verstand, es lasse sich hören. Die Erscheinung hier, der Todesfall dort, – immerhin, da sei ein gewisser achtbarer Zusammenhang zu ersehen. Und er willigte ein, an einem spiritistischen Gesellschaftsspiel, einem Glasrükken, teilzunehmen, das man aus Ungeduld, unter heimlicher Umgehung von Dr. Krokowskis eifersüchtigem Verbot, mit Ellen Brand zu veranstalten beschlossen hatte.
Nur gewisse Personen wurden zu der Sitzung, deren Schauplatz Hermine Kleefelds Zimmer war, vertraulich zugezogen: außer der Gastgeberin, Hans Castorp
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