Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
Blick, nämlich mehr und mehr von unten, da ihr Kopf sich langsam zur Brust und Schulter neigte. Als ihre Augen anfingen, sich zu brechen, tat der Gelehrte eine lässige Handbewegung aufwärts vor ihrem Gesichtchen, worauf er alle Dinge für wohl bestellt erklärte und die ganze erregte Gesellschaft zum Abenddienst schickte, ausgenommen Elly Brand, mit der er noch etwas zu »plaudern« gedachte.
    Zu plaudern! Man konnte es sich denken. Niemandem war wohl bei dem Wort, einem rechten Wort des fröhlichen Kameraden Krokowski. Jedermann fühlte sein Innerstes kalt davon angerührt, auch Hans Castorp, als er verspätet seinen vorzüglichen Liegestuhl bezog und sich erinnerte, wie ihm bei Ellys ungebührlichen Leistungen und der verschämten Erklärung, die sie dafür gegeben, der Boden unter den Füßen geschwankt hatte, so daß eine gewisse Übelkeit und körperliche Beängstigung, eine leichte Seekrankheit ihn angekommen war. Er hatte niemals ein Erdbeben erlebt, aber er sagte sich, daß damit wohl ähnliche Empfindungen unverwechselbaren Schreckens verbunden sein müßten, – von der Neugier abgesehen, die Ellen Brands fatale Fähigkeiten ihm außerdem einflößten: einer Neugier, die das Gefühl ihrer höheren Hoffnungslosigkeit in sich selbst trug, das heißt: das Bewußtsein der geistigen Unzugänglichkeit des Gebietes, wonach sie tastete, und daher den Zweifel, ob sie nur müßig oder auch {997} sündig sei, was sie aber nicht hinderte, zu bleiben, was sie war, nämlich Neugier. Hans Castorp hatte, wie jedermann, im Lauf seiner Lebensjahre von Dingen der geheimen Natur oder Übernatur dies und jenes vernommen, – der seherischen Urtante ist ja Erwähnung geschehen, von der eine melancholische Überlieferung auf ihn gekommen. Aber niemals war diese Welt, der er eine theoretische und unbeteiligte Anerkennung nicht versagt hatte, ihm persönlich auf den Leib gerückt, nie hatte er praktische Erfahrungen damit gemacht, und sein Widerstreben gegen solche Erfahrungen, ein Geschmackswiderstreben, ein ästhetisches Widerstreben, ein Widerstreben humanen Stolzes – wenn wir so anspruchsvolle Ausdrücke verwenden dürfen in Hinsicht auf unseren durchaus anspruchslosen Helden – kam der Neugier, die sie ihm lebhaft erregten, fast gleich. Er fühlte im voraus, fühlte es klar und deutlich, daß diese Erfahrungen, wie sie auch fortgehen mochten, nie anders sich würden anlassen können, als abgeschmackt, unverständlich und menschlich würdelos. Dennoch brannte er darauf, sie zu machen. Er begriff, daß »Müßig oder sündig«, als Alternative schon schlimm genug, gar keine Alternative war, sondern daß das zusammenfiel, und daß geistige Hoffnungslosigkeit nur die außermoralische Ausdrucksform der Verbotenheit war. Das Placet experiri aber, ihm eingepflanzt von einem, der
solche
Versuche freilich aufs prallste mißbilligen mußte, saß fest in Hans Castorps Sinn; seine Sittlichkeit fiel nachgerade mit seiner Neugier zusammen, hatte das wohl eigentlich immer getan: mit der unbedingten Neugier des Bildungsreisenden, die vielleicht schon, als sie vom Mysterium der Persönlichkeit kostete, nicht mehr weit von dem hier auftauchenden Gebiet entfernt gewesen war, und die eine Art von militärischem Charakter bekundete dadurch, daß sie dem Verbotenen nicht auswich, wenn es sich anbot. So beschloß Hans Castorp, auf dem Posten zu sein und nicht beiseite zu stehen, wenn es mit Ellen Brand zu weiteren Abenteuern kommen sollte.
    {998} Dr. Krokowski hatte ein striktes Verbot ergehen lassen, fernerhin laienhafte Experimente mit Fräulein Brands geheimen Gaben anzustellen. Er hatte das Kind mit wissenschaftlichem Beschlag belegt, hielt Sitzungen mit ihr in seinem analytischen Verlies, hypnotisierte sie, wie man hörte, war bestrebt, die in ihr schlummernden Möglichkeiten zu entwickeln und zu disziplinieren, ihr seelisches Vorleben zu erforschen. Dies tat übrigens auch Hermine Kleefeld, ihre mütterliche Freundin und Patronin, und erfuhr unter dem Siegel der Verschwiegenheit dies und das, was sie unter demselben Siegel im ganzen Hause verbreitete, bis in die Concierge-Loge hinein. Sie erfuhr zum Beispiel, daß der- oder dasjenige, was der Kleinen beim Spiele die Aufgaben zugeflüstert hatte, Holger hieß – es war der Jüngling Holger, ein spirit, ihr wohlvertraut, ein abgeschieden- ätherisch Wesen und etwas wie ein Schutzgeist der kleinen Ellen. – Er also hatte ihr das mit der Salzprise und Paravants Zeigefinger

Weitere Kostenlose Bücher