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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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die Dinge überhaupt nicht sich selbst überlassen dürfe. Noch war nichts Schlimmes geschehen, gottlob, und es brauchte nichts Schlimmes zu geschehen, es war sogar unwahrscheinlich. Man hatte bei künstlichem Licht aufstehen müssen und mußte nun ungefrühstückt, in bitterer Frostfrühe im Freien zusammenkommen, so war es einmal verabredet. Aber dann würde, unter der Einwirkung von seiner, Hans Castorps, Gegenwart sich zweifellos irgendwie alles zum Guten und Heiteren wenden, – auf eine Weise, die nicht vorauszusehen war, und die erraten zu wollen, man bes {1066} ser unterließ, da die Erfahrung lehrte, daß selbst der bescheidenste Vorgang anders verlief, als man vorwegnehmend ihn sich auszumalen versucht hatte.
    Dennoch war es der unangenehmste Morgen seiner Erinnerung. Flau und übernächtig, neigte Hans Castorp zu nervösem Zähneklappern und war schon in geringer Tiefe seines Wesens sehr versucht, seinen Selbstbeschwichtigungen zu mißtrauen. Es waren so ganz besondere Zeiten … Die zankzerstörte Dame aus Minsk, der tobende Schüler, Wiedemann und Sonnenschein, der polnische Ohrfeigenhandel gingen ihm wüst durch den Sinn. Er konnte sich nicht vorstellen, daß vor seinen Augen, wenn er zugegen war, zwei aufeinander schießen, sich blutig zurichten würden. Aber wenn er bedachte, was mit Wiedemann und Sonnenschein vor diesen seinen Augen zur Tatsache geworden war, so mißtraute er sich und seiner Welt und fröstelte in seiner Pelzjacke, – während übrigens immerhin und bei alldem ein Gefühl von der Außerordentlichkeit und Pathetik der Lage, zusammen mit den stärkenden Elementen der Frühluft ihn erhob und belebte.
    Unter so gemischten und wechselnden Empfindungen und Gedanken stieg er im Halbhellen, langsam sich Erhellenden in »Dorf« von der Mündung der Bobbahn auf schmalstem Pfade die Lehne hinan, erreichte den tief verschneiten Wald, überschritt die Holzbrücken, unter denen die Bahn hinablief, und stapfte auf einem Wege, der mehr ein Erzeugnis von Fußspuren, als der Schaufel war, zwischen den Stämmen weiter. Da er hastig ging, überholte er sehr bald Settembrini und Ferge, welcher mit einer Hand den Pistolenkasten unter seinem Radmantel festhielt. Hans Castorp nahm keinen Anstand, sich zu ihnen zu gesellen, und kaum war er an ihrer Seite, so erblickte er auch schon Naphta und Wehsal, die geringen Vorsprung hatten.
    »Kalter Morgen, mindestens achtzehn Grad,« sagte er in gu {1067} ter Absicht, erschrak aber selbst über die Frivolität seiner Worte und fügte hinzu: »Meine Herren, ich bin überzeugt …«
    Die anderen schwiegen. Ferge ließ seinen gutmütigen Schnurrbart auf und nieder wandern. Nach einer Weile blieb Settembrini stehen, nahm Hans Castorps Hand, legte auch noch seine andere darauf und sprach:
    »Mein Freund, ich werde nicht töten. Ich werde es nicht. Ich werde mich seiner Kugel darstellen, das ist alles, was mir die Ehre gebieten kann. Aber ich werde nicht töten, verlassen Sie sich darauf!«
    Er ließ los und ging weiter. Hans Castorp war tief ergriffen, sagte jedoch nach einigen Schritten:
    »Das ist wunderbar schön von Ihnen, Herr Settembrini, nur, andererseits … Wenn er für sein Teil …«
    Herr Settembrini schüttelte nur den Kopf. Und da Hans Castorp überlegte, daß, wenn einer nicht schösse, auch der andere sich dessen unmöglich würde unterwinden können, so fand er, daß alles sich glücklich anlasse und daß seine Annahmen sich zu bestätigen begönnen. Es wurde ihm leichter ums Herz.
    Sie überschritten den Steg, der über die Schlucht führte, worin im Sommer der jetzt in Starre verstummte Wasserfall niederging, und der so sehr zu dem malerischen Charakter des Ortes beitrug. Naphta und Wehsal gingen im Schnee vor der mit dicken weißen Kissen gepolsterten Bank auf und ab, auf der Hans Castorp einst, unter ungewöhnlich lebendigen Erinnerungen, das Ende seines Nasenblutens hatte erwarten müssen. Naphta rauchte eine Zigarette, und Hans Castorp prüfte sich, ob er ebenfalls Lust hätte, das zu tun, fand aber nicht die geringste Neigung dazu in sich vor und schloß, daß es also bei jenem erst recht auf Affektation beruhen müsse. Mit dem Wohlgefallen, das er hier stets empfand, sah er sich in der kühnen Intimität seiner Stätte um, die unter diesen eisigen {1068} Umständen nicht weniger schön war, als zu Zeiten ihrer blauen Blüte. Stamm und Gezweig der schräg ins Bild ragenden Fichte waren mit Schnee beschwert.
    »Guten Morgen!« wünschte er

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