Der Zauberberg
Stunden Übung werden mir das Handgelenk wieder geläufig machen. Gehen wir! Das Nähere wird zu verabreden sein. Ich vermute, daß jener Herr bereits anzuspannen befohlen hat.«
Hans Castorp hatte Augenblicke, während der Heimfahrt und nachher, wo ihm vor der Ungeheuerlichkeit des Bevorstehenden schwindelte, namentlich, als sich herausstellte, daß Naphta von Hieb und Stich nichts wissen wollte, sondern auf {1059} einem Pistolenduell bestand, – und daß tatsächlich er die Waffe zu wählen hatte, da er nach ehrenrechtlichen Begriffen der Beleidigte war. Augenblicke, sagen wir, kamen dem jungen Mann, wo er seinen Geist aus der allgemeinen Verstrickung und Benebelung durch die inneren Umstände bis zu einem gewissen Grade befreien konnte und sich vorhielt, daß dies ja Wahnsinn sei, und daß man es verhindern müsse.
»Wenn eine wirkliche Beleidigung vorläge!« rief er im Gespräch mit Settembrini, Ferge und Wehsal, den Naphta schon auf der Rückfahrt als Kartellträger gewonnen hatte, und der den Verkehr zwischen den Parteien vermittelte. »Eine Beschimpfung bürgerlicher, gesellschaftlicher Art! Wenn einer des anderen ehrlichen Namen in den Schmutz gezogen hätte, wenn es sich um eine Frau handelte, um irgendein solches handgreifliches Lebensverhängnis, bei dem man keine Möglichkeit des Ausgleichs sieht! Gut, für solche Fälle ist das Duell als letzter Ausweg da, und wenn dann der Ehre Genüge geschehen und die Sache glimpflich abgegangen ist, und es heißt: Die Gegner schieden versöhnt, so kann man sogar finden, daß es eine gute Einrichtung ist, heilsam und praktikabel in gewissen Verwicklungsfällen. Aber was hat er getan? Ich will ihn nicht etwa in Schutz nehmen, ich frage nur, was er zu Ihrer Beleidigung getan hat. Er hat die Kategorien über den Haufen geworfen. Er hat, wie er sich ausdrückt, den Begriffen ihre akademische Würde geraubt. Dadurch haben Sie sich beleidigt gefühlt, – mit Recht, wollen wir mal unterstellen –«
»Unterstellen?« wiederholte Herr Settembrini und sah ihn an …
»Mit Recht, mit Recht! Er hat Sie beleidigt damit. Aber er hat Sie nicht beschimpft! Das ist ein Unterschied, erlauben Sie mal! Es handelt sich um abstrakte Dinge, um geistige. Mit geistigen Dingen kann man beleidigen, aber man kann nicht damit beschimpfen. Das ist eine Maxime, die jedes Ehrengericht anneh {1060} men würde, ich kann es Ihnen bei Gott versichern. Und darum ist auch das, was Sie ihm von ›Infamie‹ und ›strenger Züchtigung‹ geantwortet haben, keine Beschimpfung, denn auch das war geistig gemeint, es hält sich alles im geistigen Bezirke und hat mit dem persönlichen überhaupt nichts zu tun, worin es einzig so etwas wie Beschimpfung gibt. Das Geistige kann niemals persönlich sein, das ist die Vervollständigung und die Erläuterung der Maxime, und deshalb –«
»Sie irren, mein Freund«, versetzte Herr Settembrini mit geschlossenen Augen. »Sie irren erstens in der Annahme, daß Geistiges nicht persönlichen Charakter gewinnen könne. Sie sollten das nicht meinen«, sagte er und lächelte eigentümlich fein und schmerzlich. »Sie gehen jedoch vor allem fehl in Ihrer Einschätzung des Geistigen überhaupt, das Sie offenbar für zu schwach halten, um Konflikte und Leidenschaften zu zeitigen von der Härte derjenigen, die das reale Leben mit sich bringt, und die keinen anderen Ausweg lassen, als den des Waffenganges. All’ incontro! Das Abstrakte, das Gereinigte, das Ideelle ist zugleich auch das Absolute, es ist damit das eigentlich Strenge, und es birgt viel tiefere und radikalere Möglichkeiten des Hasses, der unbedingten und unversöhnlichen Gegnerschaft, als das soziale Leben. Wundern Sie sich, daß es sogar direkter und unerbittlicher, als dieses, zur Situation des Du oder Ich, zur eigentlich radikalen Situation, zu der des Duells, des körperlichen Kampfes führt? Das Duell, mein Freund, ist keine ›Einrichtung‹ wie eine andere. Es ist das Letzte, die Rückkehr zum Urstande der Natur, nur leicht gemildert durch eine gewisse Regelung ritterlicher Art, die sehr oberflächlich ist. Das Wesentliche der Lage bleibt das schlechthin Ursprüngliche, der körperliche Kampf, und es ist Sache jedes Mannes, sich in aller Entfernung vom Natürlichen dieser Lage gewachsen zu halten. Er kann täglich in sie geraten. Wer für das Ideelle nicht mit seiner Person, seinem Arm, seinem Blute einzutreten vermag, {1061} der ist seiner nicht wert, und es kommt darauf an, in aller
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