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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Schießzeug weit von sich geworfen, war der erste bei ihm.
    »Infelice!« rief er. »Che cosa fai per l’amor di Dio!«
    Hans Castorp war ihm behilflich, den Körper umzulegen. Sie sahen das schwarzrote Loch neben der Schläfe. Sie sahen in ein Gesicht, das man am besten mit dem seidenen Schnupftuch bedeckte, von dem ein Zipfel aus Naphtas Brusttasche hing.

Der Donnerschlag
    Sieben Jahre blieb Hans Castorp bei Denen hier oben, – keine runde Zahl für Anhänger des Dezimalsystems, und doch eine gute, handliche Zahl in ihrer Art, ein mythisch-malerischer Zeitkörper, kann man wohl sagen, befriedigender für das Ge {1071} müt als etwa ein trockenes halbes Dutzend. Er hatte an allen sieben Tischen des Speisesaales gesessen, an jedem ungefähr ein Jahr. Zuletzt saß er am Schlechten Russentisch, zusammen mit zwei Armeniern, zwei Finnen, einem Bucharier und einem Kurden. Er saß dort mit einem kleinen Bärtchen, das er sich mittlerweile hatte stehen lassen, einem strohblonden Kinnbärtchen ziemlich unbestimmbarer Gestalt, das wir als Zeugnis einer gewissen philosophischen Gleichgültigkeit gegen sein Äußeres aufzufassen gezwungen sind. Ja, wir müssen weitergehen und diese Idee einer persönlichen Neigung zur Vernachlässigung seiner selbst in Verbindung bringen mit einer ebensolchen Neigung der Außenwelt in Beziehung zu ihm. Die Obrigkeit hatte aufgehört, Diversionen für ihn zu ersinnen. Außer der morgentlichen Frage, ob er »schön« geschlafen habe, die aber rhetorischer Art war und summarisch gestellt wurde, richtete der Hofrat nicht mehr besonders oft das Wort an ihn, und auch Adriatica von Mylendonk (sie trug ein hochreifes Gerstenkorn um die Zeit, von der wir reden) tat es nicht alle paar Tage. Sehen wir die Dinge genauer an, so geschah es selten oder nie. Man ließ ihn in Ruhe – ein wenig wie einen Schüler, der des eigentümlich lustigen Vorzuges genießt, nicht mehr gefragt zu werden, nichts mehr zu tun zu brauchen, weil sein Sitzenbleiben beschlossene Sache ist und weil er nicht mehr in Betracht kommt, – eine orgiastische Form der Freiheit, wie wir hinzufügen, indem wir uns selber fragen, ob Freiheit je von anderer Form und Art sein könne, als ebendieser. Jedenfalls war hier einer, auf den die Obrigkeit fürder kein sorgendes Auge zu haben brauchte, weil es gewiß war, daß in seiner Brust keine wilden und trotzigen Entschlüsse mehr reifen würden, – ein Sicherer und Endgültiger, der längst gar nicht mehr gewußt hätte, wohin denn sonst, der den Gedanken der Rückkehr ins Flachland überhaupt nicht mehr zu fassen imstande war … Drückte sich nicht eine gewisse Sorglosigkeit in betreff seiner {1072} Person allein in der Tatsache aus, daß er an den Schlechten Russentisch versetzt worden war? Womit übrigens gegen den sogenannten Schlechten Russentisch nicht das Allergeringste gesagt sein soll! Es gab keine irgendwie greifbaren Vor- oder Nachteile unter den sieben Tischen. Es war eine Demokratie von Ehrentischen, kühn gesagt. Dieselben übergewaltigen Mahlzeiten wurden an diesem gereicht, wie an allen anderen; Radamanthys selbst faltete dort zuweilen, im Turnus, die riesigen Hände vor seinem Teller; und die daran speisenden Völkerschaften waren ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, wenn sie auch kein Latein verstanden und sich beim Essen nicht übertrieben zierlich benahmen.
    Die Zeit, die nicht von der Art der Bahnhofsuhren ist, deren großer Zeiger ruckweise, von fünf zu fünf Minuten fällt, sondern eher von der jener ganz kleinen Uhren, deren Zeigerbewegung überhaupt untersichtig bleibt, oder wie das Gras, das kein Auge wachsen sieht, ob es gleich heimlich wächst, was denn auch eines Tages nicht mehr zu verkennen ist; die Zeit, eine Linie, die sich aus lauter ausdehnungslosen Punkten zusammensetzt (wobei der unselig verstorbene Naphta wahrscheinlich fragen würde, wie lauter Ausdehnungslosigkeiten es anfangen, eine Linie hervorzubringen): die Zeit also hatte in ihrer schleichend untersichtlichen, geheimen und dennoch betriebsamen Art fortgefahren, Veränderungen zu zeitigen. Der Knabe Teddy, um nur ein Beispiel zu nennen, war eines Tages – aber natürlich nicht »eines Tages«, sondern ganz unbestimmt von welchem Tage an – kein Knabe mehr. Die Damen konnten ihn nicht mehr auf den Schoß nehmen, wenn er zuweilen aufstand, den Pyjama mit dem Sportanzug vertauschte und herunterkam. Unmerklich hatte das Blättchen sich gewendet, er nahm sie selbst auf den Schoß bei

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