Der Zauberberg
mit heiterer Stimme, in dem Wunsch, einen natürlichen Ton sofort in die Versammlung einzuführen, der Böses zerstreuen helfen sollte, – hatte aber kein Glück damit, denn niemand antwortete ihm. Die gewechselten Grüße bestanden in stummen Verbeugungen, die bis zur Unsichtbarkeit steif waren. Dennoch blieb er entschlossen, seine Ankunftsbewegung, den herzlichen Hochgang seines Atems, die Wärme, die der rasche Gang durch den Wintermorgen ihm mitgeteilt, ohne Säumen zum guten Zweck zu verwenden und fing an:
»Meine Herren, ich bin überzeugt …«
»Sie werden Ihre Überzeugungen ein andermal entwickeln,« schnitt Naphta ihm kalt das Wort ab. »Die Waffen, wenn ich bitten darf,« fügte er mit demselben Hochmut hinzu. Und Hans Castorp, auf den Mund geschlagen, mußte zusehen, wie Ferge das fatale Etui unter seinem Mantel hervorholte, und wie Wehsal, der zu ihm getreten war, eine der Pistolen von ihm empfing, um sie an Naphta weiterzugeben. Settembrini nahm aus Ferges Hand die andere. Dann mußte man Raum geben, Ferge ersuchte murmelnd darum und fing an, die Distanzen auszugehen und sichtbar zu machen: die äußere Begrenzung, indem er mit dem Absatz kurze Linien in den Schnee grub, die inneren Barrieren mit zwei Spazierstöcken, seinem eigenen und dem Settembrinis.
Der gutmütige Dulder, womit befaßte er sich da? Hans Castorp traute seinen Augen nicht. Ferge war langbeinig und griff gehörig aus, so daß wenigstens die fünfzehn Schritte eine stattliche Entfernung ergaben, wenn da auch noch die verdammten Barrieren waren, die wirklich nicht weit voneinander lagen. Gewiß, er meinte es redlich. Doch immerhin, im Zwange wel {1069} cher Umnebelung handelte er, indem er Vorkehrungen so ungeheuerlichen Sinnes traf?
Naphta, der seinen Pelzmantel in den Schnee geworfen hatte, so daß man das Nerzfutter sah, trat, die Pistole in der Hand, auf einen der äußeren Absatzstriche, sobald er nur gezogen war und während Ferge an weiteren Markierungen noch arbeitete. Als er fertig war, bezog auch Settembrini, die schadhafte Pelzjacke offen, seine Stellung. Hans Castorp riß sich aus einer Lähmung und trat hastig noch einmal vor.
»Meine Herren,« sagte er bedrängt, »keine Übereilungen! Es ist trotz allem meine Pflicht …«
»Schweigen Sie!« rief Naphta schneidend. »Ich wünsche das Zeichen.«
Aber niemand gab ein Zeichen. Das war nicht gut verabredet. Es sollte wohl »Los!« ausgesprochen werden, allein daß es Sache des Unparteiischen sein werde, die furchtbare Aufforderung ergehen zu lassen, war nicht bedacht und jedenfalls nicht erwähnt worden. Hans Castorp blieb stumm, und niemand sprang für ihn ein.
»Wir beginnen!« erklärte Naphta. »Gehen Sie vor, mein Herr, und schießen Sie!« rief er zu seinem Gegner hinüber und begann selbst vorzugehen, die Pistole mit gestrecktem Arm auf Settembrini, in Brusthöhe, gerichtet, – ein unglaubwürdiger Anblick. Auch Settembrini tat so. Beim dritten Schritt – der andere war, ohne zu feuern, schon bis zur Barriere gelangt – hob er die Pistole sehr hoch und drückte ab. Der scharfe Schuß weckte vielfaches Echo. Die Berge warfen einander Hall und Widerhall zu, das Tal lärmte davon, und Hans Castorp dachte, die Leute müßten zusammenlaufen.
»Sie haben in die Luft geschossen,« sagte Naphta mit Selbstbeherrschung, indem er die Waffe sinken ließ.
Settembrini antwortete:
»Ich schieße, wohin es mir beliebt.«
{1070} »Sie werden noch einmal schießen!«
»Ich denke nicht daran. Die Reihe ist an Ihnen.« Herr Settembrini, erhobenen Hauptes gen Himmel blickend, hatte sich etwas seitlich zum anderen gestellt, nicht ganz in Front, was rührend zu sehen war. Man merkte deutlich, daß er gehört hatte, man solle dem Gegner nicht gerade die volle Breitseite bieten, und daß er nach dieser Weisung handelte.
»Feigling!« schrie Naphta, indem er mit diesem Aufschrei der Menschlichkeit das Zugeständnis machte, daß mehr Mut dazu gehöre, zu schießen, als auf sich schießen zu lassen, hob seine Pistole auf eine Weise, die nichts mehr mit Kampf zu tun hatte, und schoß sich in den Kopf.
Kläglicher, unvergeßlicher Anblick! Er taumelte oder stürzte, während die Berge mit dem scharfen Lärm seiner Untat Fangball spielten, ein paar Schritte rückwärts, indem er die Beine nach vorn warf, beschrieb mit dem ganzen Körper eine schleudernde Rechtsdrehung und fiel mit dem Gesicht in den Schnee.
Alle standen einen Augenblick starr. Settembrini, nachdem er sein
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