Der Zauberberg
kein Wort verstanden. Sichtlich war es ihm darum zu tun, sein Gedächtnis und seine Aussprache selbst zu genießen und vor den Zuhörern zur Geltung zu bringen. Endlich sagte er:
»Aber Sie verstehen nicht, Sie hören, ohne den schmerzlichen Sinn zu erfassen. Der Krüppel Leopardi, meine Herren, empfinden Sie dies ganz, entbehrte vor allem der Frauenliebe, und dies war es wohl namentlich, was ihn unfähig machte, der Verkümmerung seiner Seele zu steuern. Der Glanz des Ruhmes und der Tugend verblaßte ihm, die Natur erschien ihm böse – übrigens
ist
sie böse, dumm und böse, ich gebe ihm recht hierin – und er verzweifelte – es ist furchtbar zu sagen – er verzweifelte an Wissenschaft und Fortschritt! Hier haben Sie Tragik, Ingenieur. Hier haben Sie Ihr ›Dilemma für das menschliche Gefühl‹, – nicht bei jener Frau dort, – ich lehne es ab, mein Gedächtnis um ihren Namen zu bemühen … Sprechen Sie mir nicht von der ›Vergeistigung‹, die durch Krankheit hervorgebracht werden kann, um Gottes willen, tun Sie es nicht! Eine Seele ohne Körper ist so unmenschlich und entsetzlich, wie ein Körper ohne Seele, und übrigens ist das erstere die seltene Ausnahme und das zweite die Regel. In der Regel ist es der Körper, der überwuchert, der alle Wichtigkeit, alles Leben {154} an sich reißt und sich aufs widerwärtigste emanzipiert. Ein Mensch, der als Kranker lebt, ist
nur
Körper, das ist das Widermenschliche und Erniedrigende, – er ist in den meisten Fällen nichts Besseres als ein Kadaver …«
»Komisch«, sagte Joachim plötzlich, indem er sich vorbeugte, um seinen Vetter anzusehen, der an Settembrinis anderer Seite ging. »Etwas ganz ähnliches hast du doch neulich auch gesagt.«
»So?« sagte Hans Castorp. »Ja, es kann ja wohl sein, daß mir was ähnliches auch schon durch den Kopf ging.«
Settembrini schwieg während einiger Schritte. Dann sagte er:
»Desto besser, meine Herren. Desto besser, wenn dem so ist. Die Absicht lag mir fern, Ihnen irgendwelche Originalphilosophie vorzutragen, – das ist nicht meines Amtes. Wenn unser Ingenieur schon seinerseits Übereinstimmendes angemerkt hat, so bestätigt dies nur meine Mutmaßung, daß er geistig dilettiert, daß er nach Art begabter Jugend mit den möglichen Anschauungen vorläufig nur Versuche anstellt. Der begabte junge Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, er ist vielmehr ein Blatt, auf dem gleichsam mit sympathetischer Tinte alles schon geschrieben steht, das Rechte wie das Schlechte, und Sache des Erziehers ist es, das Rechte entschieden zu entwickeln, das Falsche aber, das hervortreten will, durch sachgemäße Einwirkung auf immer auszulöschen. Die Herren haben Einkäufe gemacht?« fragte er veränderten, leichten Tones …
»Nein, nichts weiter,« sagte Hans Castorp, »das heißt …«
»Wir haben ein paar Decken für meinen Vetter besorgt«, antwortete Joachim gleichgültig.
»Für die Liegekur … Bei dieser Hundekälte … Ich soll ja mitmachen die paar Wochen«, sagte Hans Castorp lachend und sah zu Boden.
{155} »Ah, Decken, Liegekur«, sagte Settembrini. »So, so, so. Ei, ei, ei. In der Tat: Placet experiri!« wiederholte er mit italienischer Aussprache und verabschiedete sich, denn sie hatten, begrüßt von dem hinkenden Concierge, das Sanatorium betreten, und in der Halle schwenkte Settembrini in die Konversationsräume ab, um vor Tische die Zeitungen zu lesen, wie er sagte. Die zweite Liegekur schien er schwänzen zu wollen.
»Gott bewahre!« sagte Hans Castorp, als er mit Joachim im Lift stand. »Das ist wirklich ein Pädagog, – er sagte es ja neulich schon selbst, daß er so eine Ader habe. Man muß furchtbar aufpassen mit ihm, daß man kein Wort zu viel sagt, sonst gibt es ausführliche Lehren. Aber hörenswert ist es ja, wie er zu sprechen versteht, jedes Wort springt ihm so rund und appetitlich vom Munde, – ich muß immer an frische Semmeln denken, wenn ich ihm zuhöre.«
Joachim lachte.
»Das sage ihm lieber nicht. Ich glaube doch, er wäre enttäuscht, zu erfahren, daß du an Semmeln denkst bei seinen Lehren.«
»Meinst du? Ja, das ist noch gar nicht mal sicher. Ich habe immer den Eindruck, daß es ihm nicht ganz allein um die Lehren zu tun ist, vielleicht um sie erst in zweiter Linie, sondern besonders um das Sprechen, wie er die Worte springen und rollen läßt … so elastisch, wie Gummibälle … und daß es ihm gar nicht unangenehm ist, wenn man namentlich auch darauf achtet.
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