Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
überzugehen. Wie sonderbar übrigens, daß er bei all der Feuchtigkeit immer noch so trockenhitzige Backen hatte, als säße er in einem überheizten Zimmer. Auch fühlte er sich lächerlich angegriffen von den Übungen mit den Decken, – wahrhaftig, »Ocean steamships« zitterte ihm in den Händen, sobald er es vor die Augen führte. So überaus gesund war er doch eben auch nicht, – total anämisch, wie Hofrat Behrens gesagt hatte, und deswegen neigte er wohl auch so zum Froste. Die unangenehmen Empfindungen jedoch wurden aufgewogen durch die große Bequemlichkeit seiner Lage, die schwer zu zergliedernden und fast geheimnisvollen Eigenschaften des Liegestuhles, die Hans Castorp beim ersten Versuche schon mit höchstem Beifall empfunden hatte, und die sich wieder und wieder aufs glücklichste bewährten. Lag es an der Beschaffenheit der Polster, der richtigen Neigung der Rückenlehne, der passenden Höhe und Breite der Armstützen oder auch nur der zweckmäßigen Konsistenz der Nackenrolle, genug, es konnte für das Wohlsein ruhender Glieder überhaupt nicht humaner gesorgt sein, als durch diesen vorzüglichen Liegestuhl. Und so war denn Zufriedenheit in Hans Castorps Herzen darüber, daß zwei leere und sicher gefriedete Stunden vor ihm lagen, diese durch die Hausordnung geheiligten Stunden der Hauptliegekur, die er, obgleich nur zu Gaste hier oben, als eine ihm ganz gemäße Einrichtung empfand. Denn er war geduldig von Natur, konnte lange ohne Beschäftigung wohl bestehen und liebte, wie wir uns erinnern, die freie Zeit, die von betäubender Tätigkeit nicht vergessen gemacht, verzehrt und verscheucht wird. Um vier erfolgte der Vespertee mit Kuchen und Eingemachtem, etwas Bewegung im {159} Freien sodann, hierauf abermals Ruhe im Stuhl, um sieben das Abendessen, welches, wie überhaupt die Mahlzeiten, gewisse Spannungen und Sehenswürdigkeiten mit sich brachte, auf die man sich freuen konnte, danach ein oder der andere Blick in den stereoskopischen Guckkasten, das kaleidoskopische Fernrohr und die kinematographische Trommel … Hans Castorp hatte den Tageslauf bereits am Schnürchen, wenn es auch viel zu viel gesagt wäre, daß er schon »eingelebt«, wie man es nennt, gewesen sei.
    Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser – sei es auch – mühseligen Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum daß sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der »Erholung«, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr körperlich-geistige Ermüdung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf sie beruht (denn für diese wäre ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, – welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefühle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, daß das eine nicht geschwächt werden kann, ohne daß auch das andere eine kümmerliche Beeinträchtigung erführe. Über das Wesen der Langenweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man {160} glaubt im ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit »vertreibe«, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und »langweilig« machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte

Weitere Kostenlose Bücher