Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
Stilfehler betrachten, als eine Geschmacksverirrung der Natur und ein
Dilemma für das menschliche Gefühl
, wie Sie sich auszudrücken beliebten. Wenn Sie Krankheit für etwas so Vornehmes und – wie sagten Sie doch –
Ehrwürdiges
zu halten scheinen, daß sie sich mit Dummheit schlechterdings
nicht zusammenreimt
. Dies war ebenfalls Ihr Ausdruck. Nun denn, nein! Krankheit ist durchaus nicht vornehm, durchaus nicht ehrwürdig, – diese Auffassung ist selbst Krankheit oder sie führt dazu. Vielleicht rufe ich am sichersten Ihren Abscheu gegen sie wach, wenn ich Ihnen sage, daß sie betagt und häßlich ist. Sie rührt aus abergläubisch zerknirschten Zeiten her, in denen die Idee des Menschlichen zum Zerrbild entartet und entwürdigt war, angstvollen Zeiten, denen Harmonie und Wohlsein als verdächtig und teuflisch galten, während Bresthaftigkeit damals einem Freibrief zum Himmelreich gleichkam. Vernunft und Aufklärung jedoch haben diese Schatten vertrieben, welche auf der Seele der Menschheit lagerten, – noch nicht völlig, sie liegen noch heute im Kampfe mit ihnen; dieser Kampf aber heißt Arbeit, mein Herr, irdische Arbeit, Arbeit für die Erde, für die Ehre und die Interessen der Menschheit, und täglich aufs neue gestählt in solchem Kampfe, werden jene Mächte den Menschen vollends befreien und ihn auf den Wegen des Fortschrittes und der Zivilisation einem immer helleren, milderen und reineren Lichte entgegenleiten.«
    Donnerwetter, dachte Hans Castorp bestürzt und beschämt, das ist ja eine Arie! Womit habe ich denn das herausgefordert? Etwas trocken kommt es mir übrigens vor. Und was er nur immer mit der Arbeit will. Immer hat er es mit der Arbeit, obgleich es doch wenig hierher paßt. Und er sagte:
    {152} »Sehr schön, Herr Settembrini. Es ist geradezu hörenswert, wie Sie das so zu sagen wissen. Man könnte es gar nicht … gar nicht plastischer ausdrücken, meine ich.«
    »Rückneigung,« setzte Settembrini wieder ein, indem er seinen Regenschirm über den Kopf eines Vorübergehenden hinweghob, »geistige Rückneigung in die Anschauungen jener finsteren, gequälten Zeiten – glauben Sie mir, Ingenieur, das ist Krankheit, – eine sattsam erforschte Krankheit, für welche die Wissenschaft verschiedene Namen besitzt, einen aus der Sprache der Schönheits- und Seelenlehre und einen aus der der Politik, – Schulausdrücke, die nichts zur Sache tun und deren Sie gern entraten mögen. Da aber im Geistesleben alles zusammenhängt und eines sich aus dem andern ergibt, da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu … da andererseits ein gesundes Prinzip immer nur lauter Gesundes zeitigen kann, gleichviel, welches man nun an den Anfang stelle, – so prägen Sie es sich ein, daß Krankheit, weit entfernt, etwas Vornehmes, etwas allzu Ehrwürdiges zu sein, um mit Dummheit leidlicherweise verbunden sein zu dürfen, vielmehr
Erniedrigung
bedeutet, – ja, eine schmerzliche, die Idee verletzende Erniedrigung des Menschen, die man im Einzelfalle schonen und betreuen möge, aber die geistig zu ehren
Verirrung
 – prägen Sie sich das ein! – eine Verirrung und aller geistigen Verirrung Anfang ist. Diese Frau, deren Sie Erwähnung taten, – ich verzichte darauf, mich ihres Namens zu entsinnen – Frau Stöhr also, ich danke sehr – kurzum, diese lächerliche Frau, – nicht ihr Fall ist es, wie mir scheint, der das menschliche Gefühl, wie Sie sagten, in ein Dilemma versetzt. Krank und dumm, – in Gottes Namen, das ist die Misere selbst, die Sache ist einfach, es bleibt nichts als Erbarmen und Achselzucken. Das Dilemma, mein Herr, die
Tragik
beginnt, wo die Natur grausam genug war, die Harmonie der Persönlich {153} keit zu brechen – oder von vornherein unmöglich zu machen –, indem sie einen edlen und lebenswilligen Geist mit einem zum Leben nicht tauglichen Körper verband. Kennen Sie Leopardi, Ingenieur, oder Sie, Leutnant? Ein unglücklicher Dichter meines Landes, ein bucklichter, kränklicher Mann mit ursprünglich großer, durch das Elend seines Körpers aber beständig gedemütigter und in die Niederungen der Ironie herabgezogener Seele, deren Klagen das Herz zerreißen. Hören Sie dieses!«
    Und Settembrini begann, italienisch zu rezitieren, indem er die schönen Silben auf der Zunge zergehen ließ, den Kopf hin und her bewegte und zuweilen die Augen schloß, unbekümmert darum, daß seine Begleiter

Weitere Kostenlose Bücher