Der Zauberberg
Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muß auch das auf Gewöhnung beruhen. Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, – es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man »sich einlebt«, macht sich allmähliche {161} Verkürzung bemerkbar: wer am Leben hängt oder, besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu
huschen
beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüchtigkeit. Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein, als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen, und als sei die Reise der Traum einer Nacht.
Diese Bemerkungen werden nur deshalb hier eingefügt, weil der junge Hans Castorp ähnliches im Sinne hatte, als er nach einigen Tagen zu seinem Vetter sagte (und ihn dabei mit rotgeäderten Augen ansah):
»Komisch ist und bleibt es, wie die Zeit einem lang wird zu Anfang, an einem fremden Ort. Das heißt … Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß ich mich langweile, im Gegenteil, ich kann wohl sagen, ich amüsiere mich königlich. Aber wenn ich mich umsehe, retrospektiv also, versteh’ mich recht, kommt es mir vor, als ob ich schon wer weiß wie lange hier oben wäre, und bis dahin zurück, wo ich ankam und nicht gleich verstand, daß ich da war, und du noch sagtest: ›Steige nur aus!‹ – erinnerst du dich? – das scheint mir eine ganze Ewigkeit. Mit Messen und überhaupt mit dem Verstand hat das ja absolut nichts zu tun, es ist eine reine Gefühlssache. Natürlich wäre es albern, zu sagen: ›Ich glaube schon zwei Monate hier zu sein‹, – das wäre ja Nonsens. Sondern ich kann eben nur sagen: ›Sehr lange‹.«
{162} »Ja,« antwortete Joachim, das Thermometer im Munde, »ich habe auch gut davon, ich kann mich gewissermaßen an dir festhalten, seit du da bist.« Und Hans Castorp lachte darüber, daß Joachim dies so einfach, ohne Erklärung, sagte.
Er versucht sich in französischer Konversation
Nein, eingelebt war er noch keineswegs, weder was die Kenntnis des hiesigen Lebens in all seiner Eigentümlichkeit betraf, – eine Kenntnis, die er in so wenigen Tagen unmöglich gewinnen konnte und, wie er sich sagte (und es auch gegen Joachim aussprach), selbst in drei Wochen leider nicht würde gewinnen können; noch auch in bezug auf die Anpassung seines Organismus an die so sehr eigentümlichen atmosphärischen Verhältnisse bei »Denen hier oben«, denn diese Anpassung wurde ihm sauer, überaus sauer, ja, wie ihm schien, wollte sie überhaupt nicht vonstatten gehen.
Der Normaltag war klar gegliedert und fürsorglich organisiert, man kam rasch in Trott und gewann Geläufigkeit, wenn man sich seinem Getriebe einfügte. Im Rahmen der Woche jedoch und größerer Zeiteinheiten unterlag er gewissen regelmäßigen Abwandlungen, die sich erst nach und nach einfanden, die eine zum erstenmal, nachdem die andere sich schon wiederholt hatte; und auch was die alltägliche Einzelerscheinung von Dingen und Gesichtern betraf, so hatte
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