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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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handelte sich um eine Macht … jene Macht … kurzum, es war die Macht der Liebe, um die es sich handelte. Selbstverständlich! Das Thema lag ja im Generaltitel des Vortragszyklus, {193} und wovon sollte Dr. Krokowski denn auch sonst wohl sprechen, da dies nun einmal sein Gebiet war. Etwas wunderlich war es ja, auf einmal ein Kolleg über die Liebe zu hören, während sonst immer nur von Dingen wie dem Übersetzungsgetriebe im Schiffbau die Rede gewesen war. Wie fing man es an, einen Gegenstand von so spröder und verschwiegener Beschaffenheit am hellen Vormittag vor Damen und Herren zu erörtern? Dr. Krokowski erörterte ihn in einer gemischten Ausdrucksweise, in zugleich poetischem und gelehrtem Stile, rücksichtslos wissenschaftlich, dabei aber gesanghaft schwingenden Tones, was den jungen Hans Castorp etwas unordentlich anmutete, obgleich gerade dies der Grund sein mochte, weshalb die Damen so hitzige Wangen hatten und die Herren ihre Ohren schüttelten. Insonderheit gebrauchte der Redner das Wort »Liebe« beständig in einem leise schwankenden Sinn, so daß man niemals recht wußte, woran man damit war, und ob es Frommes oder Leidenschaftlich-Fleischliches bedeute, – was ein leichtes Gefühl von Seekrankheit erzeugte. Nie in seinem Leben hatte Hans Castorp dieses Wort so oft hintereinander aussprechen hören, wie hier und heute, ja, wenn er nachdachte, so schien ihm, daß er selbst es noch niemals ausgesprochen oder aus fremdem Munde vernommen habe. Das mochte ein Irrtum sein, – jedenfalls fand er nicht, daß so häufige Wiederholung dem Worte zustatten käme. Im Gegenteil, diese schlüpfrigen anderthalb Silben mit dem Zungen-, dem Lippenlaut und dem dünnen Vokal in der Mitte wurden ihm auf die Dauer recht widerwärtig, eine Vorstellung verband sich für ihn damit wie von gewässerter Milch, – etwas Weißbläulichem, Labberigem, zumal im Vergleich mit all dem Kräftigen, was Dr. Krokowski genau genommen darüber zum besten gab. Denn so viel ward deutlich, daß man starke Stücke sagen konnte, ohne die Leute aus dem Saale zu treiben, wenn man es anfing wie er. Keineswegs begnügte er sich damit, allgemein bekannte, doch {194} gemeinhin in Schweigen gehüllte Dinge mit einer Art von berauschendem Takt zur Sprache zu bringen; er zerstörte Illusionen, er gab unerbittlich der Erkenntnis die Ehre, er ließ keinen Raum für empfindsamen Glauben an die Würde des Silberhaares und die Engelsreinheit des zarten Kindes. Übrigens trug er auch zum Gehrock seinen weichen Fallkragen und seine Sandalen über den grauen Socken, was einen grundsätzlichen und idealistischen Eindruck machte, wenn auch Hans Castorp etwas darüber erschrak. Indem er an der Hand von Büchern und losen Blättern, die vor ihm auf dem Tische lagen, seine Aufstellungen durch allerlei Beispiele und Anekdoten stützte und mehrmals sogar Verse rezitierte, handelte Dr. Krokowski von erschreckenden Formen der Liebe, wunderlichen, leidvollen und unheimlichen Abwandlungen ihrer Erscheinung und Allgewalt. Unter allen Naturtrieben, sagte er, sei sie der schwankendste und gefährdetste, von Grund aus zur Verirrung und heillosen Verkehrtheit geneigt, und das dürfe nicht wundernehmen. Denn dieser mächtige Impuls sei nichts Einfaches, er sei seiner Natur nach vielfach zusammengesetzt, und zwar, so rechtmäßig wie er als Ganzes auch immer sei, – zusammengesetzt sei er aus lauter Verkehrtheiten. Da man nun aber, und zwar mit Recht, so fuhr Dr. Krokowski fort, da man es nun aber richtigerweise ablehne, aus der Verkehrtheit der Bestandteile auf die Verkehrtheit des Ganzen zu schließen, so sei man unweigerlich genötigt, einen Teil der Rechtmäßigkeit des Ganzen, wenn nicht seine ganze Rechtmäßigkeit, auch für die einzelne Verkehrtheit in Anspruch zu nehmen. Das sei eine Forderung der Logik, und daran bitte er seine Zuhörer festzuhalten. Seelische Widerstände und Korrektive seien es, anständige und ordnende Instinkte von – fast hätte er sagen mögen bürgerlicher Art, unter deren ausgleichender und einschränkender Wirkung die verkehrten Bestandteile zum regelrechten und nützlichen Ganzen verschmölzen, – ein im {195} merhin häufiger und begrüßenswerter Prozeß, dessen Ergebnis jedoch (wie Dr. Krokowski etwas wegwerfend hinzufügte) den Arzt und Denker weiter nichts angehe. In einem anderen Falle dagegen gelinge er nicht, dieser Prozeß, wolle und solle er nicht gelingen, und wer, so fragte Dr. Krokowski, vermöge zu sagen, ob dies

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