Der Zauberberg
nichts mehr zu sagen blieb, so kehrten sie sich erst die Schultern und dann die Rücken zu und gingen.
Das war alles. Aber vergnügter war Hans Castorp in seinem Leben nie gewesen, als in dieser Zeichenstunde, da er mit Pribislav Hippes Bleistift zeichnete, – mit der Aussicht obendrein, ihn nachher seinem Besitzer wieder einzuhändigen, was als reine Dreingabe zwanglos und selbstverständlich aus dem vorhergehenden folgte. Er war so frei, den Bleistift etwas zuzuspitzen, und von den rot lackierten Schnitzeln, die abfielen, bewahrte er drei oder vier fast ein ganzes Jahr lang in einer inneren Schublade seines Pultes auf, – niemand, der sie gesehen hätte, würde geahnt haben, wie Bedeutendes es damit auf sich hatte. Übrigens vollzog die Rückgabe sich in den einfachsten Formen, was aber ganz nach Hans Castorps Sinne war, ja, worauf er sich sogar etwas Besonderes zugute tat, – abgestumpft und verwöhnt, wie er war, durch den intimen Verkehr mit Hippe.
»Da«, sagte er. »Danke sehr.«
Und Pribislav sagte gar nichts, sondern revidierte nur flüchtig den Mechanismus und schob das Crayon in die Tasche …
Dann hatten sie nie wieder miteinander gesprochen, aber dies eine Mal, dank Hans Castorps Unternehmungsgeist, war es eben doch geschehen …
Er riß die Augen auf, verwirrt von der Tiefe seiner Entrückt {189} heit. »Ich glaube, ich habe geträumt!« dachte er. »Ja, das war Pribislav. Lange habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Wo sind die Schnitzel hingekommen? Das Pult ist auf dem Boden, zu Hause bei Onkel Tienappel. Sie müssen noch in der inneren kleinen Schublade links hinten sein. Ich habe sie nie herausgenommen. Nicht einmal soviel Aufmerksamkeit, sie wegzuwerfen, erwies ich ihnen … Es war ganz Pribislav, wie er leibte und lebte. Ich hätte nicht gedacht, daß ich ihn je so deutlich wiedersehen würde. Wie merkwürdig ähnlich er ihr sah, – dieser hier oben! Darum also interessiere ich mich so für sie? Oder vielleicht auch: habe ich mich darum so für
ihn
interessiert? Unsinn! Ein schöner Unsinn. Ich muß übrigens gehen, und zwar schleunigst.« Aber er blieb doch noch liegen, sinnend und sich erinnernd. Dann richtete er sich auf. »Nun, so leb wohl und hab Dank!« sagte er und bekam Tränen in die Augen, während er lächelte. Damit wollte er aufbrechen; aber er setzte sich, Hut und Stock in der Hand, rasch noch einmal nieder, denn er hatte bemerken müssen, daß seine Knie ihn nicht recht trugen. »Hoppla,« dachte er, »ich glaube, das wird nicht gehen! Und dabei soll ich Punkt elf Uhr zum Vortrag im Eßsaal sein. Das Spazierengehen hat hier sein Schönes, aber auch seine Schwierigkeiten, wie es scheint. Ja, ja, aber hierbleiben kann ich nicht. Es ist nur, daß ich vom Liegen etwas lahm geworden bin; in der Bewegung wird es schon besser werden.« Und er versuchte nochmals, auf die Beine zu kommen, und da er sich gehörig zusammennahm, so ging es.
Immerhin wurde es eine klägliche Heimkehr, nach einem so hochgemuten Auszug. Wiederholt mußte er am Wege rasten, da er fühlte, daß sein Gesicht plötzlich weiß wurde, kalter Schweiß ihm auf die Stirne trat und das regellose Verhalten seines Herzens ihm den Atem benahm. Kümmerlich kämpfte er sich so die Serpentinen hinab; als er aber in der Nähe des Kurhauses das Tal erreichte, sah er klar und deutlich, daß er die {190} gedehnte Wegstrecke zum »Berghof« unmöglich noch aus eigener Kraft werde überwinden können, und da es keine Trambahn gab und kein Mietsfuhrwerk sich zeigte, so bat er einen Fuhrmann, der einen Stellwagen mit leeren Kisten gegen »Dorf« hin lenkte, ihn aufsitzen zu lassen. Rücken an Rücken mit dem Kutscher, die Beine vom Wagen hängend, von den Passanten mit verwunderter Teilnahme betrachtet, schwankend und nickend im Halbschlaf und unter den Stößen des Gefährtes, zog er dahin, stieg ab beim Bahnübergange, gab Geld hin, ohne zu sehen, wie viel und wie wenig, und hastete kopfüber die Wegschleife hinan.
»Dépêchez-vous, monsieur!« sagte der französische Türhüter. »La conférence de M. Krokowski vient de commencer.« Und Hans Castorp warf Hut und Stock in die Garderobe und zwängte sich hastig-behutsam, die Zunge zwischen den Zähnen, durch die kaum geöffnete Glastür in den Speisesaal, wo die Kurgesellschaft reihenweise auf Stühlen saß, während an der rechten Schmalseite Dr. Krokowski im Gehrock hinter einem gedeckten und mit einer Wasserkaraffe geschmückten Tische stand und
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