Der Zauberberg
sprach …
Analyse
Ein freier Eckplatz winkte glücklicherweise in der Nähe der Tür. Er stahl sich seitlich darauf und nahm eine Miene an, als hätte er hier schon immer gesessen. Das Publikum, mit erster Aufmerksamkeit an Dr. Krokowskis Lippen hängend, beachtete ihn kaum; und das war gut, denn er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war bleich wie Leinen und sein Anzug mit Blut befleckt, so daß er einem von frischer Tat kommenden Mörder glich. Die Dame vor ihm freilich wandte den Kopf, als er sich setzte, und musterte ihn mit schmalen Augen. Es war Madame Chauchat, er erkannte sie mit einer Art von Erbitterung. Aber das war doch des Teufels! Sollte er denn nicht zur Ruhe kom {191} men? Er hatte gedacht, hier still am Ziele sitzen und sich ein wenig erholen zu können, und da mußte er sie nun gerade vor der Nase haben, – ein Zufall, über den er sich unter anderen Umständen ja möglicherweise gefreut hätte, aber müde und abgehetzt, wie er war, was sollte es ihm da? Es stellte nur neue Anforderungen an sein Herz und würde ihn während des ganzen Vortrags in Atem halten. Genau mit Pribislavs Augen hatte sie ihn angesehen, in sein Gesicht und auf die Blutflecke seines Anzugs geblickt, – ziemlich rücksichtslos und zudringlich übrigens, wie es zu den Manieren einer Frau paßte, die mit den Türen warf. Wie schlecht sie sich hielt! Nicht wie die Frauen in Hans Castorps heimischer Sphäre, die aufrechten Rückens den Kopf ihrem Tischherrn zuwandten, indes sie mit den Spitzen der Lippen sprachen. Frau Chauchat saß zusammengesunken und schlaff, ihr Rücken war rund, sie ließ die Schultern nach vorne hängen, und außerdem hielt sie auch noch den Kopf vorgeschoben, so daß der Wirbelknochen im Nackenausschnitt ihrer weißen Bluse hervortrat. Auch Pribislav hatte den Kopf so ähnlich gehalten; er jedoch war ein Musterschüler gewesen, der in Ehren gelebt hatte (obgleich nicht dies der Grund gewesen war, weshalb Hans Castorp sich den Bleistift von ihm geliehen hatte), – während es klar und deutlich war, daß Frau Chauchats nachlässige Haltung, ihr Türenwerfen, die Rücksichtslosigkeit ihres Blickes mit ihrem Kranksein zusammenhingen, ja, es drückten sich darin die Ungebundenheit, jene nicht ehrenvollen, aber geradezu grenzenlosen Vorteile aus, deren der junge Herr Albin sich gerühmt hatte …
Hans Castorps Gedanken verwirrten sich, während er auf Frau Chauchats schlaffen Rücken blickte, sie hörten auf, Gedanken zu sein, und wurden zur Träumerei, in welche Dr. Krokowskis schleppender Bariton, sein weich anschlagendes r wie aus weiter Ferne hereintönte. Aber die Stille im Saal, die tiefe Aufmerksamkeit, die ringsumher alles in Bann hielt, wirkte auf {192} ihn, sie weckte ihn förmlich aus seinem Dämmern. Er blickte um sich … Neben ihm saß der dünnhaarige Pianist, den Kopf im Nacken und lauschte mit offenem Munde und gekreuzten Armen. Die Lehrerin, Fräulein Engelhart, weiter drüben, hatte gierige Augen und rotflaumige Flecke auf beiden Wangen, – eine Hitze, die sich auf den Gesichtern anderer Damen wiederfand, die Hans Castorp ins Auge faßte, auch auf dem der Frau Salomon dort, neben Herrn Albin, und der Bierbrauersgattin Frau Magnus, derselben, die Eiweiß verlor. Auf Frau Stöhrs Gesicht, etwas weiter zurück, malte sich eine so ungebildete Schwärmerei, daß es ein Jammer war, während die elfenbeinfarbene Levi, mit halbgeschlossenen Augen und die flachen Hände im Schoß an der Stuhllehne ruhend, vollständig einer Toten geglichen hätte, wenn nicht ihre Brust sich so stark und taktmäßig gehoben und gesenkt hätte, wodurch sie Hans Castorp vielmehr an eine weibliche Wachsfigur erinnerte, die er einst im Panoptikum gesehen und die ein mechanisches Triebwerk im Busen gehabt hatte. Mehrere Gäste hielten die hohle Hand an die Ohrmuschel oder deuteten dies wenigstens an, indem sie die Hand bis halbwegs zum Ohre erhoben hielten, als seien sie mitten in der Bewegung vor Aufmerksamkeit erstarrt. Staatsanwalt Paravant, ein brauner, scheinbar urkräftiger Mann, schüttelte sogar sein eines Ohr mit dem Zeigefinger, um es hellhöriger zu machen, und hielt es dann wieder Dr. Krokowskis Redeflusse hin.
Was redete denn Dr. Krokowski? In welchem Gedankengange bewegte er sich? Hans Castorp nahm seinen Verstand zusammen, um aufs laufende zu kommen, was ihm nicht gleich gelang, da er den Anfang nicht gehört und beim Nachdenken über Frau Chauchats schlaffen Rücken Weiteres versäumt hatte. Es
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