Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
Jahr – ungefähr seit einem Jahr, denn genau waren ihre Anfänge nicht aufzufinden – im stillen damit trug, was zum {186} mindesten für die Treue und Beständigkeit seines Charakters sprach, wenn man erwägt, welche riesige Zeitmasse ein Jahr in diesem Lebensalter bedeutet. Leider wohnt den Bezeichnungen von Charaktereigenschaften regelmäßig ein moralisches Urteil inne, sei es im lobenden oder tadelnden Sinn, obgleich sie alle ihre zwei Seiten haben. Hans Castorps »Treue«, auf die er sich übrigens weiter nichts zugute tat, bestand, ohne Wertung gesprochen, in einer gewissen Schwerfälligkeit, Langsamkeit und Beharrlichkeit seines Gemütes, einer erhaltenden Grundstimmung, die ihm Zustände und Lebensverhältnisse der Anhänglichkeit und des Fortbestandes desto würdiger erscheinen ließ, je länger sie bestanden. Auch war er geneigt, an die unendliche Dauer des Zustandes, der Verfassung zu glauben, worin er sich gerade befand, schätzte sie eben darum und war nicht auf Veränderung erpicht. So hatte er sich an sein stilles und fernes Verhältnis zu Pribislav Hippe im Herzen gewöhnt und hielt es im Grunde für eine bleibende Einrichtung seines Lebens. Er liebte die Gemütsbewegungen, die es mit sich brachte, die Spannung, ob jener ihm heute begegnen, dicht an ihm vorübergehen, vielleicht ihn anblicken werde, die lautlosen, zarten Erfüllungen, mit denen sein Geheimnis ihn beschenkte, und sogar die Enttäuschungen, die zur Sache gehörten und deren größte war, wenn Pribislav »fehlte«: dann war der Schulhof verödet, der Tag aller Würze bar, aber die hinhaltende Hoffnung blieb.
    Das dauerte ein Jahr, bis es auf jenen abenteuerlichen Höhepunkt gelangte, dann dauerte es noch ein Jahr, dank der bewahrenden Treue Hans Castorps, und dann hörte es auf – und zwar ohne daß er mehr von der Lockerung und Auflösung der Bande merkte, die ihn an Pribislav Hippe knüpften, als er von ihrer Entstehung gemerkt hatte. Auch verließ Pribislav, infolge der Versetzung seines Vaters, Schule und Stadt; aber das beachtete Hans Castorp kaum noch; er hatte ihn schon vorher {187} vergessen. Man kann sagen, daß die Gestalt des »Kirgisen« unmerklich aus Nebeln in sein Leben getreten war, langsam immer mehr Deutlichkeit und Greifbarkeit gewonnen hatte, bis zu jenem Augenblick der größten Nähe und Körperlichkeit, auf dem Hofe, eine Weile so im Vordergrunde gestanden hatte und dann allmählich wieder zurückgetreten und ohne Abschiedsweh in den Nebeln entschwunden war.
    Jener Augenblick aber, die gewagte und abenteuerliche Situation, in die Hans Castorp sich nun wieder versetzt fand, das Gespräch, ein wirkliches Gespräch mit Pribislav Hippe, kam folgendermaßen zustande. Die Zeichenstunde war an der Reihe, und Hans Castorp bemerkte, daß er seinen Bleistift nicht bei sich hatte. Jeder seiner Klassengenossen brauchte den seinen; aber er hatte ja unter den Angehörigen anderer Klassen diesen und jenen Bekannten, den er um einen Stift hätte angehen können. Am bekanntesten jedoch, fand er, war ihm Pribislav, am nächsten stand ihm dieser, mit dem er im stillen schon so viel zu tun gehabt hatte; und mit einem freudigen Aufschwunge seines Wesens beschloß er, die Gelegenheit – eine Gelegenheit nannte er es – zu benutzen und Pribislav um einen Bleistift zu bitten. Daß das ein ziemlich sonderbarer Streich sein werde, da er Hippe in Wirklichkeit ja nicht kannte, das entging ihm, oder er kümmerte sich doch nicht darum, verblendet von merkwürdiger Rücksichtslosigkeit. Und so stand er denn nun im Gewühle des Klinkerhofes wirklich vor Pribislav Hippe und sagte zu ihm:
    »Entschuldige, kannst du mir einen Bleistift leihen?«
    Und Pribislav sah ihn an mit seinen Kirgisenaugen über den vorstehenden Backenknochen und sprach zu ihm mit seiner angenehm heiseren Stimme, ohne Verwunderung oder doch ohne Verwunderung an den Tag zu legen.
    »Gern«, sagte er. »Du mußt ihn mir nach der Stunde aber bestimmt zurückgeben.« Und zog sein Crayon aus der Tasche, {188} ein versilbertes Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben mußte, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse. Er erläuterte den einfachen Mechanismus, während ihre beiden Köpfe sich darüberneigten.
    »Aber mach ihn nicht entzwei!« sagte er noch.
    Wo dachte er hin? Als ob Hans Castorp die Absicht gehabt hätte, den Stift etwa
nicht
zurückzuerstatten oder gar ihn fahrlässig zu behandeln.
    Dann sahen sie einander lächelnd an, und da

Weitere Kostenlose Bücher