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Der Zauberhut

Der Zauberhut

Titel: Der Zauberhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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gab es sicher keine natürliche Erklärung. Mit geradezu quälender Langsamkeit verließen die granitenen Figuren das Dach. Sie kletterten an Brüstungen und Regenrinnen herab, und außer dem gelegentlichen Kratzen von Stein auf Stein blieb alles still.
    Bedauerlicherweise wußte Rincewind nicht, was es mit schlechter Zeitraffer-Fotografie auf sich hat, denn sonst hätte er den Vorgang in allen Einzelheiten beschreiben können. Die steinernen Ungeheuer bewegten sich nicht in dem Sinne, sondern kamen in Form plötzlicher Ortswechsel voran: Erst befanden sie sich an einer Stelle, dann an einer anderen, wobei die Unterschiede manchmal nur wenige Zentimeter betrugen. In einer stummen Prozession aus Schnäbeln, Mähnen, Schwingen, Klauen und Taubenkot ruckten sie an dem Zauberer vorbei.
    »Was geht hier vor?« krächzte Rincewind.
    Eine Mischung aus Kobold, Harpyie und Huhn blieb stehen, und drehte mit kurzen, knappen Zuckungen den Kopf. Die Stimme klang wie die Peristaltik eines Gebirges (obgleich die Resonanz ein wenig unter dem Umstand litt, daß die Gestalt ihren Rachen nicht schließen konnte), als das Wesen sagte: »Ein ahrer Auberer ommt! O eh!«
    »Wie bitte?« erwiderte Rincewind. Aber das granitene Monstrum gab keine Antwort, setzte seinen Weg fort und stapfte über den uralten Rasen. 3
    Rincewind blieb sitzen und starrte zehn Sekunden lang ins Leere, bevor er einen Schrei ausstieß und so schnell lief wie noch nie zuvor in seinem Leben.
    Er verharrte erst, als er sein Zimmer im Bibliotheksflügel erreichte. Es war eine eher bescheidene Unterkunft, die in erster Linie als Lager für alte Möbel diente, aber Rincewind verband damit Vorstellungen von Heim und Sicherheit.
    An der einen dunklen Wand stand ein großer Kleiderschrank. Er gehörte nicht zu den modernen Kleiderschränken, deren einziger Zweck darin besteht, nervöse Liebhaber zu verstecken, wenn der Ehemann früher als erwartet nach Hause zurückkehrt. Nein, es war ein wuchtiges Ding aus Eichenholz, so schwarz wie die Nacht. In seinen staubigen Tiefen lauerten Kleiderbügel und vermehrten sich, und in den unteren Fächern wimmelte es von vergessenen Schuhen. Vielleicht verbargen sich irgendwelche wundersame Welten hinter der Rückwand, aber sie blieben unentdeckt, weil niemand den Gestank der vielen Mottenkugeln ertragen konnte.
    Auf diesem Schrank ruhte eine große, von vergilbtem Papier und alten Laken umhüllte, mit Messingbeschlägen versehene Truhe namens Truhe. Niemand wußte, warum sie Rincewind für ihren Eigentümer hielt. Wahrscheinlich gab es im ganzen Multiversum keine anderen Reiseutensilien, die auch nur annähernd so geheimnisvoll waren und sich wiederholt der schweren Körperverletzung schuldig gemacht hatten. Truhe wurde häufig als eine Mischung zwischen Koffer und wahnsinnigem Mörder beschrieben. Sie verfügte über viele Eigenschaften, und im Laufe dieser Geschichte wird der Leser einige kennenlernen. Derzeit aber unterschied sie sich nur in einer Hinsicht von allen anderen messingbeschlagenen Truhen: Sie schnarchte, und es klang, als säge jemand langsam durch hartes Holz.
    Truhe ist zweifellos magischer Natur, und bestimmte Leute haben allen Grund, sich vor ihr zu fürchten, aber in einem Punkt ähnelte sie allen anderen Gepäckstücken auf der Scheibenwelt: Während des Winters wurde sie träge und schlummerte gern auf einem Kleiderschrank.
    Rincewind stieß sie mehrmals mit dem Besen an, bis das Sägen aufhörte. Dann wandte er sich der Bananenkiste zu, die er als Tisch verwendete, stopfte sich verschiedene Gegenstände in die Taschen und eilte zur Tür. Ihm fiel auf, daß seine Matratze fehlte, aber er machte sich nichts daraus, weil er entschlossen war, nie wieder auf irgendwelchen Matratzen zu schlafen.
    Truhe landete mit einem lauten Pochen auf dem Boden. Nach einigen Sekunden zeigte sie Dutzende von kleinen, rosafarbenen Füßen, neigte sich von einer Seite zur anderen und streckte die Beine, bevor sie die Klappe öffnete und gähnte.
    »Kommst du nun oder nicht?« fragte Rincewind.
Die Klappe schloß sich wieder. Die winzigen Füße gerieten in Bewegung, als sich Truhe umdrehte, der Tür zuwandte und ihrem Herrn folgte.
    In der Bibliothek herrschte noch immer eine gewisse Anspannung: Hier und dort rasselten Ketten 4 , und altes Pergament knisterte. Rincewind trat an den Tisch heran und griff nach dem haarigen Arm des Bibliothekars, der noch immer unter seiner Decke kauerte.
    »Laß uns von hier

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