Der Zauberstein von Brisingamen
über den Schnee auf sie zu, und auch in seinen Augen standen Tränen. Es fiel kein Wort des Grußes, denn es war ein Augenblick jenseits aller Worte. Cadellin kniete sich neben Grimnir, und die Tränen strömten ihm über die Wangen.
«Oh Govannon!», flüsterte er. «Govannon!»
Grimnir schlug die Augen auf.
«Oh mein Bruder! Dies ist der Gipfel der Leiden all meiner Jahre. Dass es dazu kommen musste! Und durch meine Hand!»
Grimnir stützte sich auf einen Ellenbogen und wandte, Cadellin nicht beachtend, seinen Kopf zum Wald. In seinen Augen glühte ein irres Feuer. In all dem wirren Hasten bewegte sich eine Gestalt mit festem Ziel, und das war Selina Place, die mit wehenden Kleidern so schnell sie konnte auf die kleine Gruppe zugerannt kam.
Grimnir drehte den Kopf wieder herum und starrte seinen Bruder an, sprach aber nicht. Ihre Augen sprachen über die Schranken der Jahre und den Abgrund ihrer Schicksale hinweg.
Wieder wandte Grimnir sich nach Morrigan um. Sie war schon nah. Er blickte nach oben in den rauchenden Rachen Fenrirs, dann auf Cadellin. Ein trübes Lächeln verzerrte seine Mundwinkel, er hob seine geballte Faust, ließ den Stein in Cadellins Hand fallen und kippte tot nach hinten.
Mit kreideweißem Gesicht nahm Cadellin sein Schwert und steckte es in die Scheide. Er mühte sich, seine Stimme verständlich klingen zu lassen.
«Es tut mir Leid, dass wir uns am Morgen nicht treffen konnten», sagte er. «Ich hatte nicht erwartet, auf die Maras zu stoßen.» Er sah Feuerfrost an, der sicher in seiner Handfläche ruhte. «Und auch dies erwartete ich nicht. In Fundindelve wird es viel zu erzählen geben. Aber zuerst…»
Er drehte sich zu Morrigan um. Unsicher, mit finsterem Blick stand sie da, ein Dutzend Meter entfernt. Sie wusste nicht genau, was geschehen war. Dann hielt Cadellin Feuerfrost hoch, damit sie ihn sehen konnte. «Verzieh dich nach Ragnarök!»
Die Wut in jede Falte ihres Gesichts geschrieben, schrie Selina Place auf und flüchtete. Während sie lief, begann sie sich zu verändern. Sie schien sich tief über den Boden zu beugen und wurde kleiner; ihre Kleider bauschten sich um sie herum; ihre Beine wurden dünner, ihr gedrungener Körper massiger. Und dann war Selina Place verschwunden, und nur eine Rabenkrähe schwang sich in den kohlschwarzen Himmel.
«Beeilt euch», sagte Cadellin, «oder wir selbst gehen zugrunde. Gowther Mossock, stellst du dich vor mich? Ich werde meine Hand auf deine Schulter legen. Colin, Susan: Stellt euch neben mich. Haltet euch an meinem Gewand fest.
Lasst nicht los! Fenodyree, setz dich zu unseren Füßen.
Klammere dich fest an meinen Saum! Ist Durathror nicht bei euch?»
«Er ist dort», ächzte Fenodyree. «Aber er wird nicht wiederkommen!»
«Was sagst du da?»
Fenodyree zeigte hinüber.
«Durathror! Schnell! Wir müssen ihn retten!»
«Bleib!», rief Fenodyree, als Cadellin auf den Wald zulaufen wollte. «Es ist keine Zeit mehr, und es hätte auch keinen Sinn.
Sieh! Fenrir ist über uns!»
Der ganze Himmel im Norden und Osten war ein einziger Wolfsschädel. Sein Maul klaffte weit auf, bis nichts mehr zu sehen war als der schwarze, höhlengleiche Rachen, der niederfuhr, um Berg und Tal auf einmal zu verschlingen.
Hexen, Dämonen, Svarts und Lyblacs rannten in panischer Flucht nach Süden und überrannten jeden, der ihnen im Weg stand. Die Vögel ließen zwar alle weit hinter sich, waren aber auch nicht schnell genug.
Ein einziger Vogel flog nicht nach Süden, sondern auf den näher kommenden Schatten zu, er schraubte sich immer höher, bis er nur noch ein schwarzer Punkt vor einem noch schwärzeren Firmament war, und selbst Zwergenaugen konnten nicht mehr erkennen, ob er sich aus den schartigen Fängen lösen konnte, die ihn vom Himmel zu holen suchten.
Als der Berg in den ungeheuren Rachen glitt, hob Cadellin seine rechte Hand und hielt Feuerfrost in die Höhe. Gowther stand fest wie ein Fels. Colin und Susan umklammerten Cadellins Taille, und Fenodyree packte mit seinem gesunden Arm so viel von den Kleidern des Zauberers, wie er nur konnte.
«Drochs, Muroch, Esenaroth!»
Ein Kegel aus Licht fuhr aus dem Stein und hüllte sie in einen blauen Nebel. Um sie her brauste mit Wolfsgeheul ein sengender Wind, doch war die Luft, die sie atmeten, ruhig.
Durch den Schleier waren undeutlich schräge gelbe Augen zu sehen, hungrige Augen. Und da waren auch noch andere Geräusche und Gestalten, die sie besser nicht sahen.
Der rasende Sturm
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