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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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drehte ich mich im Sattel um, als sich die Vögel wieder auf ihrer Beute niederließen. Als eine Krähe dem Kaninchen die Eingeweide aus dem Bauch zerrte, schaute ich schnell wieder nach vorn.
    Peggy hatte heute frei. Ihre Vertretung Stephanie war klein und braun wie ein Zaunkönig. Sie hatte auch Augen wie ein Vögelchen. Ihr Blick huschte flink umher und immer wieder über mein Gesicht, bis ich kapierte, dass sie Schiss vor mir hatte. Sie versuchte die ganze Zeit, mich loszuwerden: »Danke, das kann ich auch allein.« Oder: »Hilf doch lieber im Speisesaal mit.«
    Aber im Speisesaal wurde ich gar nicht gebraucht. Ich brachte zwar Lucy an ihren Platz und schob ein paar andere Bewohner in Rollstühlen an die Tische, doch dann ging ich wieder.
    Und dachte: Ich habe doch einen Kartenschlüssel. Wieso eigentlich nicht?
    + + +
    Die Schwestern im Haus Seeblick achteten nicht auf mich, und falls Dr. Rainier gerade da war, begegnete ich ihr nicht. Ich ging zielstrebig zu Mr Witeks Zimmer. In der Tür blieb ich stehen und lauschte auf das Piep-piep-piep der Apparate.
    Mr Witeks Zustand war unverändert. Wieder war sein Oberkörper mit Kissen halb aufgerichtet, nur hatte er diesmal die Augen geschlossen. Sein Mund stand offen, und er atmete hörbar. Er schien zu schlafen – oder lag er im Koma?
    Ich hatte Herzklopfen, mein Atem ging schneller. Ganz ruhig. Ich wischte mir die feuchten Hände an der Jeans ab.Ich wusste selbst nicht, was ich erwartet hatte – nein, das wäre gelogen: Ich wusste es sehr wohl. Ich hatte gehofft, in meinem Kopf würde es wieder summen . Aber das passierte nicht. Ich klopfte an den Türrahmen. »Mr Witek?« Und noch mal lauter: »Mr Witek, ich bin’s, Christian!«
    Natürlich bekam ich keine Antwort.
    Trotzdem geschah etwas. Es ist schwer zu beschreiben, aber etwas zupfte sozusagen an meinem Hirn, als spielte jemand Harfe darauf.
    Mein Blick streifte die Messingröhre am Türrahmen. Jetzt, wo ich davorstand, erkannte ich am oberen Ende ein Ornament, das wie ein W aussah. Mich überkam wieder das seltsame ›Es liegt mir auf der Zunge‹-Gefühl: Ich weiß, was das ist …
    Ich trat ins Zimmer und zog die Tür hinter mir zu.
    + + +
    Erst blieb ich einen Augenblick stehen. Ich hatte weiche Knie und immer noch feuchte Hände. Der Infusomat neben dem Monitor tickte leise. Im Zimmer roch es säuerlich, als müsste der alte Mann mal gewaschen oder wenigstens das Bett frisch bezogen werden.
    Die Gemälde blickten mich von den Wänden an. Es gab ein paar Landschaften und ein Familienporträt mit Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Das Bild ganz rechts zur Tür hin stellte eine Frau auf einem Sofa dar. Ihre Haut war weiß wie Alabaster. Sie reckte die Arme über den Kopf, ihr Haar ergoss sich wie flüssiges Gold über die dunkelgrünen Polster. Sie trug einen schimmernden Morgenmantel aus cremefarbenerSeide mit schwarzen Aufschlägen und einem Muster aus roten Chrysanthemen. Der Mantel klaffte auf der linken Seite so weit auseinander, dass man die rosige Brustwarze ahnte. Die Frau blickte den Betrachter unbefangen und lockend an. Ihre vollen, roten Lippen waren leicht geöffnet und ließen ebenmäßige, weiße Zähne erkennen.
    Das Sofa mit der Frau stand vor einem breiten Fenster mit einem Oberlicht aus buntem Bleiglas. Die Ornamente darauf erinnerten an Jugendstil: geschwungene Tulpen, Seerosen und Schilfhalme. Durch das Fenster blickte man in einen Garten. Rechts stand eine Frau in griechischem Gewand an einem Springbrunnen und goss Wasser aus einer Amphore. Links prangte eine mächtige Weide, um deren Stamm herum eine schmiedeeiserne Bank angebracht war.
    Ich suchte nach der Signatur des Malers, entdeckte aber nur ein merkwürdiges Symbol: einen sechszackigen Stern mit zwei Buchstaben in der Mitte, MW. Über und unter dem Stern standen zwei Zahlen, eine 4 und eine 5.
    Wieder dachte ich: Das kenne ich doch …
    Mein Blick wanderte zum nächsten Gemälde – und es lief mir eiskalt der Rücken herunter.
    Ein Irrtum war ausgeschlossen. Das Gemälde zeigte die gleichen sanften Hügel, die gleichen dunkelgrünen Baumreihen und am Horizont den lang gestreckten See. Den Glockenturm und die Fabrik. Sogar der Rauch aus den Schornsteinen der Häuser war genau gleich – und die leuchtend blaue Zwiebelkuppel: die ›weiße Dame‹.
    Als hätte jemand die Skizze, die ich in meinem allerersten Alptraum gezeichnet hatte, als Ölbild ausgeführt. Ich hatte diese Stadtansicht auch sonst schon einmal gesehen.
    In der

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