Der Zeichner der Finsternis
1. NOVEMBER: VORMITTAG
WINTER, WISCONSIN
So. Ich habe alles, was ich brauche, um von hier zu verschwinden. Meine Pinsel. Farbe. Die Wand.
Nein, eigentlich nicht die Wand – die Wand in meinem Zimmer –, sondern die Bilder von der anderen Seite, die ich vom Umschlag des alten Buches abgemalt habe. Mom hatte es immer auf dem Nachttisch liegen, nachdem mein Vater weggegangen war. Ich war damals erst ein Jahr alt, deswegen kann ich mich nicht an ihn erinnern. Onkel Hank ist Dads Bruder, und er sagt, Dad war ein guter Mensch und hat Mom sehr geliebt – mehr, als für sie beide gut war, denn nach seinem Verschwinden war Mom nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sie hat stundenlang das alte Buch angestarrt, und als Onkel Hank nachgefragt hat, was los sei, hat sie geantwortet: »Er ist dort, Hank. Er ist auf der anderen Seite und findet nicht mehr zurück. Er braucht mich. Wenn ich doch nur wüsste, wie ich zu ihm komme …«
Onkel Hank dachte, sie sei vor Kummer verrückt geworden. Alle anderen dachten, sie sei verrückt geworden, weil sie sich nicht damit abfinden konnte, dass sich mein Dad eine andere gesucht hatte. (Das war zwar überhaupt nicht klar,aber die Leute behaupteten es einfach. Die Leute hier reden viel, wenn der Tag lang ist, ob sie Ahnung haben oder nicht.) Jedenfalls hat sich niemand gewundert, als Mom zwei Jahre nach Dad ebenfalls verschwand.
Da war ich drei. Und seit damals, seit vierzehn Jahren, suche ich meine Mom.
Die Menschen hier in Winter behaupten, sie hatte es entweder genauso wie Dad gemacht – nämlich sich jemand anders gesucht – oder sich irgendwo weit weg das Leben genommen, weil sie Onkel Hank und mir nicht zur Last fallen wollte. Onkel Hank glaubt weder das eine noch das andere und ich auch nicht, denn das einzig Wichtige, was Mom dagelassen hat – na ja, außer mir vielleicht –, war der Schutzumschlag von ihrem Buch. Auf der Innenseite hat sie Onkel Hank einen kurzen Abschiedsbrief hinterlassen. Onkel Hank sollte dafür sorgen, dass ich den Buchumschlag irgendwann bekomme. Daher weiß ich, dass dieser Umschlag die Antwort auf die Frage ist, wo meine Eltern sind. Ich muss bloß noch rausfinden, wie ich mich richtig hineinversetze.
Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, sind Moms Augen. Sie waren grau wie meine eigenen, grau wie Gewitterwolken. Vielleicht bin ich deswegen so … na ja, davon besessen, dass ich immerzu versuche, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Wenn ich das hinkriege, dann finde ich Mom wieder, davon bin ich fest überzeugt. Ich glaube nämlich, dass sie es irgendwie geschafft hat, auf die andere Seite zu gelangen, zu Dad, und jetzt können sie beide nicht mehr zurück. Dafür brauchen sie meine Hilfe. Und darum, unter anderem, muss ich hier verschwinden.
Der Buchumschlag ist … unheimlich. Man sieht eine zerbombte,verwüstete Landschaft mit verkrüppelten Bäumen. Die Bäume recken ihre pechschwarzen krummen Äste in den Himmel, der blaurot wie ein Bluterguss ist, ein strudelndes Dunkellila mit orange, gelben und blutroten Streifen. Ein zerklüfteter Berg ragt hoch empor. Die Landschaft ist von sonderbaren Wesen bevölkert, halb Drachen, halb Wölfe, mit geifernden Fängen und schräg stehenden Goldaugen. Es sieht alles total bizarr und gruselig aus. Zugleich ist es mir so vertraut, als hätte ich diese Landschaft schon einmal gesehen. Oder als würde ich irgendwie dort hingehören.
So sieht es auf der anderen Seite aus. Und so habe ich es auf meine Zimmerwände gemalt, den Himmel, die Bäume, den Berg, alles ganz genauso wie auf dem Buchumschlag.
Bis auf die Tür.
Ich meine keine richtige Tür, so wie die, durch die man nach unten in die Küche kommt, wo es warm und gemütlich ist. Nein, diese Tür habe ich im Schlaf gemalt. Schon zwei Mal. Beim ersten Mal habe ich so einen Schreck gekriegt, dass ich sie sofort wieder übermalt habe. Beim zweiten Mal, das war erst vor einem Monat oder so, habe ich sie gelassen, sozusagen als persönliche Herausforderung. Denn die Tür ist noch nicht fertig. Sie hat keine Klinke, deswegen kann man sie nicht öffnen. Darüber habe ich in letzter Zeit oft nachgedacht, besonders nach dem Vorfall letzte Nacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der letzte Schritt – die Klinke zu malen – eine bewusste Entscheidung sein muss, nicht etwas, das ich im Traum mache. Ich habe nur noch nicht den Mut dazu aufgebracht, was okay war. Bis jetzt.
Denn nach dem, was letzte Nacht passiert ist, weiß ich, dass ich fortgehen muss.
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