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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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Gemeinschaftsraum Seeblick …«
    Ich kam zu spät! Ich hetzte den überdachten Durchgang zwischen den Gebäuden entlang, zog meinen Kartenschlüssel durch den Schlitz und stand im Haus Seeblick. Bilder und fremde Gedanken brandeten auf mich ein, wie Wellen an einen Strand schlagen. Überall in den Fluren standen Bewohner und redeten durcheinander. Ich drängeltemich durch, und nach einem Blick auf mich wichen sie zurück. Vor dem Gemeinschaftsraum hatte sich eine größere Gruppe versammelt, und von drinnen hörte man aufgeregte Stimmen.
    »Entschuldigung, ich muss da rein!«, keuchte ich. »Bitte lassen Sie mich durch, ich muss …!«
    Ich blieb wie angewurzelt stehen.
    Lucys rotgefärbte Freundin saß zusammengesunken und schluchzend in ihrem Rollstuhl. Eine Schwester legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Überall lagen umgekippte Staffeleien, Blöcke und Pinsel. Jemand war in verschüttete Farbe getreten und hatte bunte Fußabdrücke über den Boden verteilt.
    Lucys Staffelei war umgestürzt, als Lucy aus dem Rollstuhl gekippt war. Doch der Block mit ihrer Kohlezeichnung lag obenauf – und das unförmige Gesicht auf der Zeichnung sah genauso aus, wie ich es vor mir gesehen hatte.
    Durch eine Lücke zwischen den über sie gebeugten Angestellten erspähte ich Lucy. Sie lag auf dem Rücken und streckte Arme und Beine von sich. Ihr blaugeblümtes Kleid war um die Hüften hochgerutscht, und man sah ihre Schenkel, die weiß wie Fischbäuche waren. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund stand offen, das runzlige Gesicht war in einem Ausdruck des Staunens und der Qual verzerrt – und ich begriff, dass sie den Augenblick ihres eigenen Todes gezeichnet hatte.
    Nein! Sie hatte sich totgezeichnet !
    Um mich drehte sich alles. Oh Gott, es ist wieder das Gleiche wie bei Miss Stefancyzk und Tante Jean!
    Dr. Rainier versuchte Lucy wiederzubeleben. »Schnell, einenTubus und eine Flexüle!« Sie erblickte mich. »Christian! Was ist denn mit dir passiert?«
    Aber ich ertrug es nicht länger. Ich ergriff die Flucht.

XVI
    Niemand hielt mich auf. Ich sprang aufs Rad und trat wie ein Wilder in die Pedale. Es wurde schon dunkel. Im Westen leuchtete der Himmel prächtig orangerot und pfirsichrosa, über mir war er noch kobaltblau. Ich war höchstens drei Minuten unterwegs, da kam mir schon ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene entgegen.
    Als mich die Scheinwerfer einen Augenblick lang blendeten, schoss es mir durch den Kopf: Los, überfahr mich! Überfahr mich einfach, dann hört das alles endlich auf … Vielleicht kam mir auch der Gedanke, einfach vor das Auto zu radeln, das weiß ich nicht mehr. Aber der Krankenwagen überfuhr mich natürlich nicht, sondern brauste an mir vorbei und überschüttete mich mit einem Hagel aus Kieselsteinchen.
    Ich radelte weiter. Diesmal trieb mich nicht die Angst, nein, über diesen Punkt war ich längst hinaus. Meine Gedanken überschlugen sich. Die Falsche war gestorben. Anscheinend brachte ich allen immer nur Unglück. Erst Dad, dann Mom, dann Tante Jean und … Und wenn ich gar nicht mehr nach Hause fuhr? Aber wo konnte ich hin? Und wovon sollte ich leben? Sollte ich über die Grenze nach Kanada gehen und mich in der Wildnis durchschlagen? Mir in einem entlegenenKaff einen Job suchen und nie wieder Kohle, Buntstift und Pinsel anrühren?
    Die Pinsel! Sie steckten noch in meiner Hosentasche. Warum hatte ich sie überhaupt mitgenommen? Weil sie auf Mr Witeks Nachttisch gelegen hatten und ich das als Zeichen aufgefasst hatte? Typisch geisteskrank! Als ich die Pinsel an mich genommen hatte, war eine Kugel ins Rollen gekommen. Und jetzt rollte sie immer schneller und schneller, und das war ganz allein meine Schuld.
    Mein Gesicht war nass von Blut und Tränen, mein Mund schmeckte nach Salz und rostigem Metall. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und ich trat heulend in die Pedale. Es waren nur noch zwei Meilen bis nach Hause, als mein Vorderlicht den Geist aufgab. Leider fuhr mich trotzdem niemand über den Haufen.
    Irgendwann fiel mir auf, dass das Raunen in meinem Kopf verstummt war. Vielleicht hatte mein Verstand einfach auf Notstromversorgung geschaltet. Keine Ahnung.
    Onkel Hanks Wagen stand nicht in der Einfahrt. Anscheinend hatte ihm noch niemand mitgeteilt, was sein gestörter Neffe jetzt wieder verbockt hatte. Aber er würde bald zu Hause sein. Bis dahin musste ich mir überlegen, was ich jetzt machen sollte, denn die alte Krauss würde mich garantiert rausschmeißen, und dann

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