Der Zeichner der Finsternis
Scheune. Als David.
»Scheiße!« Obwohl ich flüsterte, hallte es in meinem Schädel wider wie ein Schrei. Ich hatte eine Gänsehaut und einen Druck im Unterleib, als müsste ich dringend pinkeln. Dann kam es mir vor, als hätte der Greis im Bett einen Laut von sich gegeben, und ich fuhr zu Tode erschrocken herum.
Der Alte lag unverändert da. Seine Brust bewegte sich bei jedem Atemzug wie ein ausgeleierter Blasebalg. Seine Kinnlade hing herunter, und der Mund war eine dunkle Höhle, weil er keine Zähne mehr hatte. Hinter den halb geschlossenen Lidern blinkten zwei weiße Streifen, und die Iris glitt hin und her. Er träumte.
Meine Hände verkrampften sich, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen. Meine Finger zuckten. Ein Bleistift, ein Kugelschreiber, irgendwas …
Mein Blick fiel auf ein kleines bräunliches Leinwandbündel auf Mr Witeks Nachttisch, das mir vorher nicht aufgefallen war. Um das Bündel war ein Band geschlungen und es lag auf einem Skizzenbuch. Schon war ich hingegangen und hatte es mir gegriffen. Ich zog an dem Band und rollte das Bündel auf. Schwacher Terpentingeruch stieg mir in die Nase.
Das Bündel war eine aus Leinwand genähte Pinseltasche. Jeder Pinsel steckte in seiner eigenen kleinen Abteilung. Es waren Pinsel, wie man sie für Ölmalerei verwendet, teils aus derben Schweineborsten für das Auftragen dicker Farbe, teils aus teurem Rotmarderhaar. Es gab sie in allen möglichen Formen: Flachpinsel, Rundpinsel, Katzenzungenpinsel und ganz dünne Feinstrich-Pinsel der Stärke Null. Alle Pinsel waren in ausgezeichnetem Zustand. Die Köpfe waren nicht ausgefranst,der dunkle Lack auf den Stielen glänzte. Auf jedem Stiel stand in goldenen Zahlen die jeweilige Größe sowie in Schnörkelschrift ›Dynasty‹.
Die Pinsel konnten nur dem Maler gehören, von dem auch die Gemälde stammten – MW. W für ›Witek‹.
Ich gab mir einen Ruck und sprach den Alten an: »Mr Witek, möchten Sie, dass ich die hier an mich nehme? Liegen die Pinsel deswegen auf Ihrem Nachttisch?«
Natürlich antwortete er nicht. Nicht mal sein Atem ging schneller. Man hätte genauso gut mit einer Leiche reden können. Trotzdem … ich sah noch einmal von dem Pinselfutteral in meiner Hand zu dem Alten, dann steckte ich das Futteral in meine hintere Jeanstasche und zog das Hemd darüber. Ich kam mir vor wie ein Dieb – was mich jedoch nicht davon abhielt, auch noch das Skizzenbuch vom Nachttisch zu nehmen.
Die Blätter waren vergilbt und fleckig. Auf der ersten Seite stand mit schwarzer Tinte nur ein Datum: 8.7.45 .
Auf der zweiten Seite war eine Bleistiftskizze, das Brustbild eines jungen Mannes im Dreiviertelprofil, die linke Seite zum Betrachter gewandt. Der Mann sah aus wie Anfang zwanzig. Er hatte ein hageres Gesicht mit schmalem Mund und einer hohen Stirn, in die Ponyfransen fielen. Unter der Nase verlief eine Narbe, eine zweite, halbmondförmige Narbe zog die Haut über dem linken Wangenknochen straff. Der Mann hatte eine scharf geschnittene Nase, seine Augen standen ein bisschen zu eng zusammen. Sein Blick erinnerte mich an eine Flunder. Hatte er ein Hängelid? Aus seiner Brusttasche lugte jedenfalls eine Brille. Sein Hemd stand am Hals offen, und unter der linken Schulter leuchtete etwasWeißes – ein Buchstabe? Unter dem Porträt stand ein Name, Daecher , und dahinter L.K. 31G-5293 .
Der Name Daecher kam mir irgendwie bekannt vor, auch wenn niemand in unserer Stadt so hieß. Ich blätterte weiter. Das ganze Skizzenbuch war voller Männerporträts, und unter jeder Bleistiftzeichnung standen ein Name und eine Zahlenreihe.
Ich wandte mich wieder an den Alten. »Mr Witek, ich habe keine Ahnung, worum es hier geht und ob Sie mich überhaupt hören, aber vielleicht können Sie ja … vielleicht können Sie blinzeln oder …«
»Was hast du hier zu suchen? «
Ich unterdrückte einen Aufschrei und fuhr herum. Beinahe hätte ich Stephanie umgeworfen. Sie machte ein bitterböses Gesicht und kniff argwöhnisch die Vogelaugen zusammen, als sie das Skizzenbuch erblickte. »Ich hab dich etwas gefragt!«
»Ich …« Ich schluckte und tat genau das Verkehrte, indem ich das Skizzenbuch rasch wieder auf den Nachttisch legte – wie ein schuldbewusster Dieb, der mit der Hand in der Ladenkasse erwischt wird. »Ich hab mich bloß ein bisschen mit Mr Witek unterhalten.«
»Unterhalten?« Stephanie trat an das Bett. »Wie willst du dich denn mit …« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Oh Gott!«
Mr Witeks
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