Der Zeichner der Finsternis
paar Male, die wir zusammen auf der Pflegestation zu tun hatten, ließ sie mich nicht aus den Augen. Aber sonst wurde sie ein bisschen lockerer und meinte, ich könnte gern auch noch an anderen Tagen kommen, wenn ich meine Sozialstundenmöglichst schnell hinter mich bringen wollte. Ich hakte gleich ein und teilte ihr mit, dass ich gern auch mittwochs kommen würde. Ich konnte mir die Nachmittage ebenso gut richtig zuknallen.
Damit war die Woche tatsächlich voll. Ich musste ja auch noch Hausaufgaben machen, für Klassenarbeiten lernen und solche Dinge.
Ich kam innerlich so weit runter, dass ich wieder essen konnte. Onkel Hank war der Ansicht, das käme bestimmt von der anstrengenden Arbeit im Heim. Ich ließ ihn in dem Glauben.
Das Raunen war irgendwie … verstummt. Ich dachte möglichst wenig daran, weil ich es nicht wieder heraufbeschwören wollte.
Meine Träume wurden leider nicht besser. Das war echt übel. Ich träumte immer wieder denselben bruchstückhaften Alptraum: Es ist dunkel, es riecht nach Heu und Blut, Pferde wiehern und Männer rufen durcheinander. Dabei hatte ich das seltsame Gefühl, dass ich mit den Augen eines anderen sah. War es dieser David? Wahrscheinlich.
Am nächsten Wochenende regnete es, und ich konnte nicht mit der Scheune weitermachen, was ich nicht unbedingt bedauerte. Die Scheune tat mir sowieso nicht gut. Manchmal schreckte ich aus einem Traum hoch und hatte das Gefühl, mir läge die Antwort auf alle meine Fragen auf der Zunge. Ich versuchte auch, meine Träume zu zeichnen, aber es sah jedes Mal nicht richtig aus. Oft sah ich im Schlaf ja nicht einmal Bilder, sondern eher flüchtige Sinneseindrücke – etwas Helles blitzte auf, es roch nach Rost, Pferdegewieher, aufgeregte Männerstimmen.
Es hatte eindeutig mit der Scheune zu tun. Mehr brauchte ich gar nicht zu wissen.
Ach ja – und die Tür an meiner Wand war nicht wieder aufgetaucht. Auch das war mir nur recht.
+ + +
Am Mittwoch die Woche drauf gab es im Geschichtsunterricht allgemeines Gestöhne. »Ein Heimatkundereferat? In diesem Kaff passiert doch nie was Spannendes!«, schimpfte einer meiner Mitschüler.
»Stimmt gar nicht«, hielt Sarah dagegen. »Hier werden alle fünf Minuten eingemauerte Leichen entdeckt.«
»Davon mal abgesehen. Und das Thema hast du dir ja schon gekrallt, was bleibt da für uns übrig?«
Der Lehrer griff ein. »Nicht jedes Referat muss sich mit so einem Sensationsfund beschäftigen. Wir hätten da zum Beispiel noch die Geschichte der Fabrik und die der Familie Eisenmann nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gewerkschaftsunruhen in den dreißiger und vierziger Jahren, der Brand von 1945, der Beitrag der Stadt Winter zur Rüstung im zweiten Weltkrieg und so weiter. Mir fallen auf Anhieb eine Menge Themen ein, die sich mit der Geschichte unseres Bundesstaates und überhaupt der Vereinigten Staaten verknüpfen lassen, sogar mit internationalen Ereignissen nach dem Ersten Weltkrieg. Ich stelle euch eine Liste zusammen, und dann ist eure Kreativität gefragt.«
Nach der Stunde kam Sarah an meinen Tisch. »Ich hab übrigens Dr. Rainier interviewt.«
»Und?«
»Sie ist nett.« Sarah beobachtete mich.
Ich packte meine Bücher ein. »Schön.«
»Kommst du mit, wenn die Rechtsmedizinerin das tote Baby untersucht?«
»Mal sehen. Jetzt muss ich in die nächste Stunde.«
Sarah kam mit auf den Flur. »Welches Thema nimmst du für dein Referat?«, fragte sie. Ein paar andere Schüler drehten sich nach uns um. Sarah schien nichts zu merken oder es war ihr egal – was mich wunderte.
»Ich hab auch an einen Mordfall gedacht.«
»Echt? An welchen denn?«
»Huhu Sarah!« Eine von ihren Freundinnen.
Sarah verzog das Gesicht. Dann drehte sie sich wieder zu mir. »Christian, ich …«
»Schon klar. Bis dann.« Ich verzog mich.
+ + +
Ich geb’s zu, als ich am Nachmittag ins Altenheim radelte, dachte ich doch wieder an die Scheune. Während ich an dem Waldstück mit den Weymouth-Kiefern vorbeifuhr, kam es mir vor, als verströmten die Bäume eine ungewöhnliche Kälte, als wäre es unter den Ästen noch dunkler als sonst. Mich überkam der Drang, umzukehren und in die Dunkelheit einzutauchen – aber ich riss mich zusammen und radelte weiter.
Auf der Zufahrt zum Heim entdeckte ich ein plattgefahrenes Kaninchen. Vier Krähen flatterten von dem Kadaver auf, und mir ging albernerweise durch den Kopf: Was macht ihr denn hier? Als könnten es nur die Krähen von der Scheunesein. So ein Blödsinn. Trotzdem
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