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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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hatten. Sie waren trotzdem nass und rochen außerdem nach Gras. Also zog ich ein altes Paar an.
    Ich fuhr mit dem Rad. Wir wohnen am südlichen Stadtrand und die Schule liegt ungefähr vier Querstraßen westlich von den Eisenmann-Betrieben. Bei ungünstigem Wind riecht man die Fabrik schon von Weitem. Keine Ahnung,wie viele Hektar das Gelände hat. Aber es ist mindestens halb so groß wie die ganze Stadt, mit der Eisengießerei, den Produktionsgebäuden, den Lagerhallen, Wassertürmen und so weiter. Die Fabrik hat sogar eine eigene Eisenbahnlinie.
    Wenn man die meisten Leute hier hört, könnte man denken, die Eisenmanns sind Götter oder so – was ja irgendwie auch stimmt, schließlich arbeitet hier so gut wie jeder für sie. (Ich habe mir schon lange vorgenommen, diese Stadt fluchtartig zu verlassen, sobald ich kann. Und das liegt nicht nur daran, dass ich hier noch nie besonders beliebt war. Winter ist eine Kleinstadt, wo jeder jeden in- und auswendig kennt. Hier wissen die Leute Dinge über einen, die man selber längst vergessen hat. Milwaukee und Madison gelten hier schon als Ausland.)
    Die Familie Eisenmann verkörpert den amerikanischen Traum. In der Fünften hatten wir eine extra Unterrichtseinheit über die Eisenmanns: wie sie vor dem Ersten Weltkrieg als arme Schlucker aus Deutschland einwanderten und den langen Weg hierher ins Eisenland zurücklegten, wo sie schließlich die Fabrik gründeten und unserer Stadt zu Wohlstand und Ansehen verhalfen … blablabla. Letztendlich war der zweite Eisenmann derjenige, dem die Stadt ihre Entstehung verdankt. Er gehörte zu den ersten deutschen Einwanderern, die es in diese Gegend verschlug. Er kannte sich mit Eisenverarbeitung aus und beschloss, in seiner Fabrik deutsche Fachkräfte einzustellen. Außerdem baute er Wohnheime und bezahlte den Arbeitern die Überfahrt von Deutschland und Österreich nach Wisconsin.
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    Über unsere Schule gibt’s nicht viel zu sagen. Es ist eine kleine Schule. Nicht mal fünfhundert Schüler, alle Klassenstufen. Auch hier weiß jeder alles über jeden.
    Ich saß in der zweiten Stunde, Geschichte der USA nach dem Ersten Weltkrieg. Der Lehrer redete gerade über die Referatsthemen für das Halbjahr, als der Direktor reinkam und ihn kurz sprechen wollte. Ich sitze rechts, wo die Tür ist, und ziemlich hinten, darum konnte ich nicht erkennen, ob der Direktor noch jemanden dabeihatte. Alle anderen fingen gleich an zu quatschen, allerdings nicht mit mir. Was okay ist, ich kenn’s nicht anders. Als meine Mutter damals einfach verschwunden ist, haben die anderen Mütter ihren Kindern geraten, sie sollten mir aus dem Weg gehen. Dann war da noch die Sache mit meiner Lehrerin aus der ersten Klasse, Miss Stefancyzk. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und hat sich aufgehängt – keine Stunde, nachdem sie mich angeschrien hatte. Aber ich war noch klein und bin immer noch nicht sicher, ob es an mir lag. Was Tante Jean betrifft … in ihrem Fall bin ich ganz sicher, auch wenn das sonst niemand glaubt, schon gar nicht Onkel Hank. Wenn er es wüsste, würde er mich ewig dafür hassen.
    Vielleicht würde er mich sogar umbringen.
    Jedenfalls machte es mir nichts aus, dass keiner mit mir redete. Ich hab sowieso nicht viel zu sagen. Wahrscheinlich ist das besser so.
    Ich hatte aber eine Idee für meine Kohlezeichnung im Kunstunterricht und kritzelte eine Skizze in meinem Hefter. Mir war ein altes Foto eingefallen, das ich mal irgendwo gesehen hatte. Darauf probiert eine Frau vor einem vierteiligen Klappspiegel einen Hut auf. Die Frau dreht dem Betrachterden Rücken zu – wie auf einem Gemälde von Magritte –, aber man sieht ihr gespiegeltes Gesicht aus vier verschiedenen Blickwinkeln. Das war’s! Auf diese Weise könnte ich meine Mom sozusagen rundherum sehen. Dann würde ich sie auf jeden Fall erkennen und dann … dann …
    Ich zeichnete drauflos. Mein Kopf wurde leer wie ein Flaschenkürbis, mein angestrengtes Hirn entspannte sich, meine Hände übernahmen das Kommando. Ich mag dieses Gefühl. Mit Worten hab ich’s ich nicht so, aber ich kann mit Stift und Pinsel umgehen. Und manchmal kommt es mir vor, als ob das, was ich zeichne, im Verborgenen schon da ist. Ich befördere es nur noch ans Licht , als ob ich Wasser aus einem Brunnen schöpfe, der manchmal so tief ist, dass man sich wundert, dass überhaupt noch etwas rauskommt. Michelangelo pflegte zu sagen, dass die Figuren, die er schuf, schon in den Marmorblöcken drinsteckten. Er

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