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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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brauchte sie nur noch daraus zu befreien. Den David zum Beispiel oder die Pieta.
    So ähnlich geht es mir mit dem Zeichnen. Wenn ich zum Beispiel einen Baum abmale, zeigt meine Zeichnung den Baum, den ich vor mir sehe. Aber das ist längst nicht alles. Ich zapfe auch die Kraft des Baumes an, um ihn richtig wiedergeben zu können. Das klingt bescheuert, schon klar, aber … ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Ich glaube, deshalb sagen Künstler manchmal, dass ihr Brunnen leer ist. Dann haben sie alles aufgebraucht, was sie anzapfen können.
    Wenn ich richtig in Fahrt bin, macht es Klick , als würde ein Schalter umgelegt. Dann schöpfe ich aus irgendeiner verborgenen Quelle, bis die Zeichnung und ich eins werden . Dann steht nichts mehr zwischen mir, dem Stift und dem Papier, weil wir eine Einheit bilden und dasselbe Ziel verfolgen.
    Als ich jetzt meine Idee zu meiner Mutter skizzierte, verblasste und verstummte meine Umgebung. Ich war wie in Trance und gleichzeitig hellwach und hoch konzentriert – ein tolles Gefühl. Ich löste mich auf und war trotzdem voll da. Ich roch den Grafit, spürte den Bleistift in den Fingern und starrte auf das Blatt, bis sich die Papieroberfläche in lauter Hügel, Täler und Linien verwandelte, die alle zusammenhingen. Es war wie ein Rausch, ein herrlicher Rausch, und ich hätte jeden umgebracht, der mich daraus aufwecken wollte …
    »Christian!«
    Es traf mich wie ein Hammerschlag. Ich schaute blinzelnd von meiner Zeichnung auf. Vorn standen der Lehrer und der Direktor nebeneinander. Alle schauten mich an – als hätten mich die beiden schon ein paar Mal gerufen und ich hätte nichts mitgekriegt, was durchaus möglich war. Mein Rauschzustand verflüchtigte sich, in mir wurde es finster.
    »Christian«, sagte der Direktor, »kommst du bitte mal? Und nimm deine Bücher gleich mit.«
    »Klar.« Mir wurde ein bisschen mulmig. Wenn so etwas in der Schule vorkam, dann war entweder ein Familienmitglied krank geworden oder zu Hause war etwas Schlimmes passiert. War Onkel Hank etwas zugestoßen?
    Als ich nach vorn ging, drehten sich meine Mitschüler nach mir um. Manche tuschelten. So ziemlich die Einzige, die so erschrocken aussah, wie ich selbst war, war Sarah Schoenberg. Früher hatten wir oft miteinander gespielt.Meine Tante und mein Onkel waren mit Sarahs Eltern befreundet. Nach Tante Jeans Tod und als Sarah irgendwann beliebt wurde – im Gegensatz zu mir –, sahen wir uns nicht mehr so oft, nur ab und zu sonntags zum Essen. Und dann sagten wir meistens bloß »Hallo, wie geht’s«. Sarah hat ganz warme, karamellbraune Augen. Da-Vinci-Augen. Sie ist keine Schönheit, aber wenn sie lächelt, sieht man sofort, dass sie supernett ist. Diesmal lächelte sie nicht.
    Der Lehrer wich meinem Blick aus, und ich dachte: Auweia! Onkel Hank war der einzige Verwandte, den ich noch hatte. Wenn er verunglückt war oder …
    Aber als ich in den Flur kam, stand er dort. Auch er lächelte nicht. »Wir müssen uns unterhalten, Christian«, sagte er nur.
    Ich sah erst meinen Onkel an, dann den Direktor, dann wieder meinen Onkel. »Ist gut.«
    »Nicht hier«, sagte der Direktor und nahm uns mit in sein Büro.
    Als wir reinkamen, hörten die Sekretärinnen schlagartig auf zu reden. Sie gafften mich an wie ein Tier im Zoo. Wir traten nacheinander ins Zimmer des Direktors, erst der Direktor, dann ich und dann Onkel Hank. »Setz dich«, forderte mich der Direktor auf.
    Ich setzte mich. Die beiden anderen blieben stehen. Der Direktor lehnte sich mit dem Hintern an seinen Schreibtisch, Onkel Hank stand neben mir. Ich kam mir vor wie ein Verdächtiger, der von zwei Polizisten in die Mangel genommen wird. Vielleicht war das ja auch der Fall.
    »Was ist denn los?«, fragte ich.
    »Christian«, begann Onkel Hank, »der Anruf heute frühkam von Mr Eisenmann.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
    »Aha«, sagte ich verständnislos.
    »Jemand hat die alte Scheune auf seinem Gelände angesprüht, das frühere Hofgebäude. Mit roter Farbe, aber nicht mit Graffiti. Die Arbeiter, die zur Frühschicht kamen, haben Mr Eisenmann verständigt.«
    »Ja und?«
    »Weißt du etwas darüber?«
    » Ich? Nö.«
    »Ganz bestimmt nicht?«
    »Nein, ganz bestimmt nicht.«
    »Und wenn ich dir nun sage, dass ich sofort an dich denken musste, als ich vor Ort war und die Bescherung gesehen habe?«
    Ich wollte schon erwidern: Dann weiß ich auch nicht mehr darüber, aber da fiel mir wieder ein, dass meine Turnschuhe nass

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