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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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freien Lauf lassen können. Vielleicht dachten sie aber auch an meine Mom und kamenzu dem Schluss, dass sie es mir sowieso nicht abgewöhnen könnten. Stimmt ja auch, denn ich kann es mir selbst nicht abgewöhnen, nicht mal, wenn mein Leben davon abhängen würde. Als ich klein war, habe ich Kinderkram gemalt, Raketen und Sterne und so Zeug. Das mit Mom – mit ihrem Gesicht und ihren Augen –, das fing erst an, als ich fünf oder sechs war. Manches übermale ich wieder. Entweder, weil ich es nicht mehr sehen will oder weil es unwichtig ist. Aber meine Mutter, die übermale ich nie. Schon mal gesehen, wie ein Pfau ein Rad schlägt? Auf den Schwanzfedern sind lauter kobaltblaue Flecken, und ganz plötzlich blicken einen Hunderte Flecken an. Etwas Ähnliches habe ich an eine meiner Wände gemalt – ein Pfauenrad mit den Augen meiner Mutter drauf. Nur dass man in Moms Augen lauter kleine Bilder sieht, als wären ihre Augen Spiegel oder als könnte man ihre Erinnerungen darin lesen. Man sieht zum Beispiel mich als kleines Kind, Onkel Hank und Tante Jean und Gebäude aus unserer Stadt.
    Das mit der anderen Seite ging aber erst nach Tante Jeans Tod los. Ich glaube, es lag daran, dass ich am Nachmittag vor ihrem Tod zum ersten Mal richtig ausgerastet bin. Ich war so wütend, dass ich plötzlich auf der anderen Seite war – oder die andere Seite ist überhaupt erst aus meiner Wut entstanden, das weiß ich nicht so genau. Tatsache ist aber, dass Tante Jean an diesem Abend gestorben ist. Ihr Auto ist bei Glatteis ins Schlittern gekommen und in den Fluss gestürzt. Mir war sofort klar, dass es meinetwegen passiert war.
    Wie auch immer, an diesem Mittwochmorgen im September entdeckte ich zwei Dinge an meiner Wand. Zwei Dinge, die vorher nicht da gewesen waren.
    Erstens ein Augenpaar. Moms Augen waren das nicht. Meine ebenfalls nicht. Die Augen standen schräg wie Wolfsaugen und leuchteten wie flüssiges Gold.
    Zweitens eine Tür. Ohne Klinke, einfach ein schwarzes Viereck neben dem zerklüfteten Berg. Ich spürte, dass das komische Brummeln und Raunen in meinem Kopf von irgendwelchen Wesen herkam, die hinter dieser Tür lauerten.
    Das Ganze war mir unheimlich, und ich stand schnell auf. Nach dem Duschen zerrte ich meine Klamotten unter einem Stapel Kunstbücher über Dali und Picasso hervor und dann nichts wie runter in die Küche. Weil ich nicht darüber nachdenken wollte. Nicht über das Raunen, nicht über den Traum
    (Blut und wiehernde Pferde … nein, Papa, nein!) und auch nicht über die Wesen, die hinter der Tür lauerten. Und schon gar nicht über die unheimlichen goldenen Augen. Ich hatte keine Ahnung, wem sie gehörten. Und ich wollte es auch gar nicht wissen.
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    Wie jeden Mittwoch gab es Rührei und Würstchen zum Frühstück. Diese Woche stand Onkel Hank am Herd. (Wir haben nämlich einen festen Essensplan: Montags und donnerstags gibt’s Frühstücksflocken, dienstags Haferbrei, mittwochs Rührei mit Würstchen, freitags Pfannkuchen. Der Küchendienst wechselt wochenweise. Samstags und sonntags schlafen wir aus. Nur manchmal stehe ich samstags früh auf, radle in die Stadt und hole aus Gina Pedersons BäckereiZimtschnecken, vor allem, wenn Onkel Hank am Freitag Nachtdienst gehabt hat.)
    An diesem Morgen musterte mich Onkel Hank forschend mit zusammengekniffenen Augen – sein Sheriffblick. Er erinnerte mich an den Marlboro-Mann, nur ohne Lungenkrebs. »Du siehst aus, als hätte dich jemand ans Auto gebunden und zehn Meilen mitgeschleift.« Seine Stimme knirschte wie Autoreifen auf Schotter. Er beugte sich vor und fuhr stirnrunzelnd fort: »Du hast Augenringe. Stimmt was nicht? Ist was mit der Schule?«
    Ich erwiderte, alles sei bestens. Damit gibt er sich meistens zufrieden, weil ich sowieso nie mehr erzähle, und Onkel Hank ist nicht der Typ, der nachbohrt. Diesmal hätte er aber vielleicht nicht lockergelassen, wenn er nicht einen Anruf von der Zentrale gekriegt hätte. Er setzte sofort seinen Stetson-Hut auf. Ich schaufelte sein Rührei und seine Würstchen auf ein Brot und wickelte das Ganze ein. Ich musste ihm das Päckchen praktisch hinterherwerfen, so schnell war er zur Tür raus. Er verlor kein Wort darüber, worum es bei dem Anruf gegangen war. Aber an so was gewöhnst du dich, wenn dein Onkel Sheriff ist.
    Als ich mich für die Schule fertig machte, fiel mir auf, dass meine neuen Turnschuhe nass waren. Das konnte eigentlich nicht sein, weil sie drinnen auf der Matte vor der Hintertür gestanden

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