Der Zeitdieb
Eventualität verstreut sind und zufällige Verbindungen mit Fragmenten anderer historischer Strukturen haben. Verstehst du das?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gut. Alles, was ich dir gerade gesagt habe, ist Unsinn und hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit der tatsächlichen Situation. Aber es ist eine Lüge, die du… verstehen kannst. Und dann…«
»Dann gehst du«, sagte Susanne. Es war keine Frage.
»Ich werde nicht genug Kraft haben, um hier zu bleiben«, erwiderte Lobsang.
»Du brauchst Kraft, um ein Mensch zu bleiben?«, fragte Susanne. Sie hatte nicht gemerkt, dass Hoffnung in ihr aufgekeimt war, aber jetzt wich sie Enttäuschung.
»Ja. Es ist eine schreckliche Anstrengung für mich, in nur vier Dimensionen zu denken. Tut mir Leid. Es ist schon schwierig genug, geistig am Konzept des ›Jetzt‹ festzuhalten. Du hast mich für größtenteils menschlich gehalten, aber ich bin größtenteils nicht menschlich.« Lobsang seufzte. »Wenn ich dir nur beschreiben könnte, wie alles für mich aussieht… Es ist wundervoll.«
Er blickte in die leere Luft über den Spulen. Dinge funkelten. Komplexe Kurven und Spiralen zeichneten sich hell vor der Dunkelheit ab.
Es sah nach einer demontierten Uhr aus, mit allen Zahnrädern und Federn auf schwarzem Samt. Auseinander genommen, kontrollierbar, jedes Teil leicht zu verstehen… Aber einige kleine, wichtige Komponenten waren mit einem Fing in den Ecken eines sehr großen Raums verschwunden. Mit ausreichendem Geschick konnte man feststellen, wo sie lagen.
»Nur ein Drittel der Zauderer ist heil geblieben«, erklang Lu-Tzes Stimme. »Die anderen sind entweder schwer beschädigt oder ganz zerstört.«
Lobsang sah ihn nicht. Es existierte nur noch das Glitzern vor seinen Augen.
»Das… stimmt, aber einmal waren sie alle heil«, erwiderte er, hob die Hände und ließ sie auf die Spulen sinken.
Susanne drehte den Kopf, als sie plötzlich ein Knirschen hörte. Säulen wuchsen aus den Trümmern und standen wie Reihen von Soldaten da. Staub rieselte an ihnen herab.
»Guter Trick!«, rief Lu-Tze Susanne ins Ohr, damit sie ihn trotz des Getöses verstand. »Er leitet Zeit in die Dreher! Rein theoretisch ist das möglich, aber wir haben es nie geschafft!«
»Weißt du, was er da macht ?«, rief Susanne zurück.
»Ja! Er holt zusätzliche Zeit aus Teilen der Geschichte, die zu weit vorn sind, und er fügt sie den Teilen hinzu, die zu weit nach hinten geraten sind!«
»Klingt einfach!«
»Es gibt da nur ein Problem!«
»Welches?«
»Es lässt sich nicht bewerkstelligen! Weil es zu Verlusten kommt!« Lu-Tze schnippte mit den Fingern und versuchte, die Dynamik der Zeit einem Uneingeweihten zu erklären. »Reibung! Divergenz! Und vieles andere! Mit den Zauderern kann man Zeit nicht erschaffen, nur bewegen…«
Plötzlich war Lobsang von hellblauem Licht umgeben. Es flackerte über die Tafel, zuckte dann durch die Luft und formte Bögen, die zu allen Zauderern führten. Das Glühen kroch über die Symbole zwischen den Säulen, haftete daran und bildete immer dichtere Schichten, wie Baumwolle, die aufgewickelt wurde.
Lu-Tze betrachtete das Leuchten und die schrumpfenden Schatten zwischen den Lichtbahnen.
»Ich meine, bisher ließ es sich nicht bewerkstelligen…«, fügte er hinzu.
Die Zauderer erreichten ihre Arbeitsgeschwindigkeit und beschleunigten weiter. Das Licht bewirkte, dass sie sich immer schneller drehten. In einem konstanten, unendlichen Strom ergoss es sich durch die Höhle.
Flammen leckten über den unteren Teil der nächsten Säule. Ihr Fuß glühte, und das vom Lager ausgehende Geräusch gesellte sich einem lauter werdenden Kreischen hinzu, das von gequältem Stein kündete.
Lu-Tze schüttelte den Kopf. »Susanne… Wassereimer von den Brunnen! Unity… Du folgst ihr mit der Schmiere!«
»Und was machst du?«, fragte Susanne. Sie griff nach zwei Eimern.
»Ich mache mir verdammt große Sorgen, und das ist kein einfacher Job, glaub mir!«
Dampf stieg auf, und mit ihm der Geruch von brennender Butter. Es gab nur noch Zeit dafür, zwischen den Brunnen und zischenden Lagern hin und her zu laufen. Und dann gab es nicht einmal mehr dafür Zeit.
Die Zauderer drehten sich vor und zurück. Es mussten keine Verbindungen zwischen ihnen hergestellt werden. Die Kristallstäbe, die den Zusammenbruch überstanden hatten, hingen nutzlos an ihren Haken, als das Licht der Zeit Bögen zwischen den Säulen spannte und dabei rot oder blau leuchtete. Lu-Tze wusste:
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