Der Zeitdieb
während sie aufwachsen, Dinge, die nirgends niedergeschrieben sind. Und Unity war nicht aufgewachsen.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Susanne.
»Ich weiß nicht. Nach menschlichen Maßstäben verfüge ich über gewisse Fähigkeiten.«
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann…«
Später begriff sie, dass es ein Satz war in der Art von »Wie geht’s?« Man rechnet damit, dass die Leute so etwas nicht für eine richtige Frage halten. Aber auch das hatte Unity noch nicht gelernt.
»Danke. Du kannst mir tatsächlich helfen.«
»Oh, gut, wenn…«
»Ich möchte sterben.«
Reiter näherten sich aus der untergehenden Sonne.
Tick.
Kleine Feuer brannten im Schutt und brachten ein wenig Licht in die Nacht. Die meisten Häuser waren vollkommen zerstört worden, obwohl Soto den Ausdruck »in kleine Stücke gerissen« für genauer hielt.
Er saß am Straßenrand, den Bettelnapf vor sich, und beobachtete die Ereignisse aufmerksam. Für einen Geschichtsmönch gab es natürlich bessere und interessantere Methoden, unbeachtet zu bleiben, aber er benutzte den Bettelnapf, seit Lu-Tze ihm gezeigt hatte: Die Leute sahen nie jemanden, der sich Geld von ihnen erhoffte.
Er hatte gesehen, wie die Retter zwei Personen aus dem Haus trugen. Zuerst glaubten sie, einer von ihnen sei durch die Explosion grässlich verstümmelt worden – bis sich der Mann aufsetzte und behauptete, ein Igor zu sein, noch dazu einer in einem sehr guten Zustand. Der zweite Mann erwies sich als Dr. Hopkins von der Uhrmachergilde; wie durch ein Wunder war er unverletzt.
Soto glaubte nicht an Wunder. Darüber hinaus reagierte er mit Argwohn auf die Tatsache, dass man im betreffenden Haus viele Orangen gefunden hatte und Dr. Hopkins davon faselte, Sonnenschein daraus zu gewinnen. Außerdem wies Sotos glitzernder kleiner Abakus darauf hin, dass etwas Enormes geschehen war.
Er beschloss, Bericht zu erstatten und festzustellen, was die Jungs von Oi Dong dazu meinten.
Soto nahm den Napf und begann mit der Wanderung durch ein Labyrinth aus Gassen, um zu seinem Stützpunkt in Ankh-Morpork zurückzukehren. Inzwischen achtete er nicht mehr darauf, sich zu verbergen. Lu-Tzes Zeit in der Stadt war für viele Bürger der lauernden Sorte ein Schnellkurs gewesen. Die Bewohner von Ankh-Morpork kannten jetzt die Regel Nummer Eins.
Zumindest die meisten von ihnen. Drei Gestalten sprangen aus dem Dunkeln, und eine von ihnen schwang ein Stück Holz, das Soto am Kopf getroffen hätte, wenn er nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre, sich zu ducken.
Natürlich war er an so etwas gewöhnt. Es kam immer wieder vor, dass man jemandem begegnete, der langsam lernte, aber solche Probleme ließen sich meistens mit einem guten Schnitt lösen.
Er stand auf, bereit dazu, einen sanften Ausweg zu finden. Eine dicke Locke aus schwarzem Haar fiel ihm auf die Schulter, glitt an der Kutte hinunter und erreichte schließlich den Boden. Sie verursachte kaum ein Geräusch, aber Sotos Gesichtsausdruck, als er erst auf die Locke hinabsah und dann den Blick hob, ließ die drei Angreifer zurückweichen.
Durch blutroten Nebel des Zorns bemerkte er, dass sie alle fleckige graue Kleidung trugen und noch irrer wirkten als die üblichen Gassenleute. Sie sahen aus wie verrückt gewordene Buchhalter.
Einer von ihnen streckte die Hand nach dem Bettelnapf aus.
Jeder hat einen Bedingungssatz in seinem Leben, eine kleine Erweiterung der Regeln in der Art von ›außer, wenn mir keine Wahl bleibt‹ oder ›es sei denn, niemand sieht hin‹ oder ›es sei denn, die erste Praline enthält Nougat‹. Seit Jahrhunderten glaubte Soto an die Heiligkeit allen Lebens und die letztendliche Nutzlosigkeit von Gewalt, doch sein persönlicher Bedingungssatz lautete: »Aber nicht das Haar. Niemand rührt das Haar an, verstanden?«
Trotzdem sollte jeder wenigstens eine Chance haben.
Die Angreifer wichen noch etwas weiter zurück, als Soto den Napf gegen die Wand warf. Verborgene Klingen bohrten sich ins Holz.
Der Napf begann zu ticken.
Soto lief durch die Gasse zurück und schlitterte um die Ecke. Erst dann rief er: »In Deckung!«
Leider kam die Warnung für die drei Revisoren einen Sekundenbruchteil zu spät…
Tick
Lu-Tze weilte im Garten der fünf Überraschungen, als es in der Luft funkelte. Glitzernde Flöckchen strebten aufeinander zu und formten eine Gestalt.
Er sah von der jodelnden Stabheuschrecke auf, um die er sich kümmerte, weil sie schon seit einer ganzen Weile nichts mehr
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