Der Zeitdieb
Selbst ausgebildete Zauderer-Mönche wären von diesem Anblick so entsetzt gewesen, dass sie ihre Knoptas verloren hätten. Es sah nach einer außer Kontrolle geratenen Kaskade aus, aber irgendwo gab es einen lenkenden, steuernden Faktor, der ein Muster entstehen ließ. Lager heulten. Butter brodelte. Die unteren Bereiche mancher Dreher qualmten. Aber die Dinge hielten. Sie werden gehalten, dachte Lu-Tze.
Er sah zu den Klappen hoch. Sie öffneten und schlossen sich, schickten Signalwellen aus rotem, blauem oder nicht markiertem Holz über die Höhlenwand. Hier und dort bildete sich grauer Dunst, als hölzerne Lager heiß liefen.
Vergangenheit und Zukunft strömten durch die Luft. Der Kehrer spürte es. Lobsang auf dem Podium war in eine glühende Aura gehüllt. Er bewegte die Spulen gar nicht mehr. Was jetzt geschah, ereignete sich auf einem anderen Niveau, das keine primitiven Mechanismen mehr benötigte.
Löwenbändiger, dachte Lu-Tze. Er beginnt mit Stühlen und Peitschen, aber eines Tages, wenn er wirklich gut ist, braucht er nur Augen und Stimme für die Schau. Aber nur wenn er wirklich gut ist. Und man weiß, dass er wirklich gut ist, wenn er den Käfig wieder verlässt…
Lu-Tze war an den donnernden Säulen entlanggegangen und blieb stehen, als sich das Geräusch veränderte.
Einer der größten Zauderer wurde langsamer. Der Kehrer beobachtete, wie er anhielt und sich nicht erneut in Bewegung setzte.
Lu-Tze lief los und stürmte durch die Höhle, bis er Susanne und Unity fand. Drei weitere Zauderer hielten an, bevor er sie erreichte.
»Er schafft es! Er schafft es! Kommt!«, rief er. Mit einem Ruck, der den Boden erzittern ließ, kam noch ein Zauderer zum Stillstand.
Zusammen mit den beiden Frauen lief Lu-Tze zum Ende der Höhle, wo sich die kleineren Zauderer drehten. Die Welle der Verlangsamung dehnte sich immer weiter aus. Ein Dreher nach dem anderen stoppte in einem Domino-Effekt, der die drei Laufenden überholte. Als sie die kleinen Zauderer aus Kreide erreichten, kamen sie gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der letzte von ihnen verharrte.
In der folgenden Stille hörten sie nur noch das Zischen heißer Schmiere und das Knacken abkühlenden Gesteins.
»Ist alles vorbei?«, fragte Unity. Mit dem Kleid wischte sie sich Schweiß vom Gesicht, dabei gingen weitere Pailletten verloren.
Lu-Tze und Susanne sahen zum Glühen am anderen Ende der Höhle und wechselten dann einen Blick.
»Ich… glaube… nicht«, sagte Susanne.
Lu-Tze nickte. »Ich nehme an, er…«
Stangen aus grünem Licht sprangen von Zauderer zu Zauderer, hingen starr wie Stahl in der Luft. Sie flackerten zwischen den Säulen, und es knallte immer wieder wie von Donnerschlägen. Hier und dort flammten Blitze und stellten neue Verbindungen her.
Das Knallen folgte immer schneller aufeinander und wurde schließlich zu einem anhaltenden Donnern. Die Lichtstangen leuchteten heller und wuchsen, bis sie alle Schatten aus der Höhle verdrängt hatten, bis es nur noch strahlendes Weiß gab…
Das abrupt verschwand. Das Donnern hörte so plötzlich auf, dass es dröhnte.
Lu-Tze und seine beiden Begleiterinnen standen langsam auf.
»Was ist passiert ?«, fragte Unity.
»Ich glaube, er hat einige Veränderungen vorgenommen«, sagte Lu-Tze.
Die Zauderer ruhten. Die Luft war heiß. Rauch und Dampf sammelten sich unter der Höhlendecke.
Dann reagierten die Dreher auf das ewige Ringen der Menschheit mit der Zeit und setzten sich wieder in Bewegung.
Ein neuer Anfang, sanft wie eine Brise. Die Zauderer nahmen die Belastung auf, vom kleinsten bis zum größten, begannen erneut mit ihren massigen Pirouetten.
»Perfekt«, kommentierte Lu-Tze. »Fast so gut wie vorher, nehme ich an.«
»Nur fast?«, fragte Susanne und wischte sich Butter aus dem Gesicht.
»Nun, er ist zum Teil ein Mensch«, sagte der Kehrer. Sie sahen zum Podium – niemand stand dort. Das überraschte Susanne nicht. Bestimmt war er jetzt geschwächt. Eine solche Anstrengung hätte jeden erschöpft. Ja, er musste ausruhen. Natürlich.
»Er ist fort«, sagte sie schließlich.
»Wer weiß?«, erwiderte Lu-Tze. »Denn steht nicht geschrieben, ›Man weiß nie, was sich ergibt‹?«
Das beruhigende Grollen der Zauderer füllte nun die Höhle. Lu-Tze spürte den Zeitfluss in der Luft. Es war erfrischend, wie der Geruch des Meeres. Ich sollte hier mehr Zeit verbringen, dachte er.
»Er hat die Geschichte zerstört und repariert«, sagte Susanne. »Ursache und Heilung. Das
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