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Der zeitlose Winter

Der zeitlose Winter

Titel: Der zeitlose Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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und die traditionelle muslimische Kleidung zu tragen. Dieser Druck war es, der Fischmehls Vater davon überzeugte, mit seiner Frau und ihren beiden Söhnen in eine kleine Siedlung in den Ausläufern des Paropanisos-Gebirges umzusiedeln.
    Das Dorf war so abgelegen, dass sie von den Grausamkeiten, die das Land überrollten, weitgehend verschont blieben, allerdings nicht so abgelegen, dass es keine Opfer gegeben hätte. Getrieben von Rastlosigkeit und der starken Anziehungskraft des allgegenwärtigen Aktivismus der Mudschaheddin, schloss sich Fischmehls älterer Bruder einer kleinen Gruppe auf dem Weg nach Shindand an. Er wollte Pilot werden. Seine Entscheidung erschütterte die Familie, die daraufhin all ihre Bemühungen auf den Hausunterricht ihres zweiten Sohnes konzentrierte, der mehr akademische Interessen zeigte. Bevor Fischmehls Bruder fortging, vollzog er jedoch ein Ritual, das sich dem Jungen im übertragenen wie im wörtlichen Sinne einprägte.
    In einer mondlosen Nacht schlüpfte der ältere Junge in das gemeinsame Zimmer und weckte seinen Bruder mit einem geflüsterten Gebet. Dann zog er ein Messer über die Innenflächen ihrer rechten Hände. Ihr Blut und ihre Bruderbande vermischten sich in diesem Händedruck auf Ewigkeit. Ihren Eltern sagte er kein Wort, sondern verschwand lautlos in der Dunkelheit.
     

     
    Wahrscheinlich war es nicht nur der religiöse Eifer der Mudschaheddin gewesen, der Fischmehls älteren Bruder zum Fortgehen bewegte. Als Kind hatte Fischmehl einige bemerkenswerte Talente gezeigt, auf die seine Eltern ihre Energien konzentrierten. Dabei hatten sie, ohne es zu wollen, ihr anderes Kind vernachlässigt.
    Fischmehl war noch keine drei Jahre alt, als er während eines kurzen Schlagabtauschs zwischen afghanischen und sowjetischen Truppen von seinen Eltern getrennt wurde und allein den Weg zu ihrem Haus zurück fand, das etwa zwanzig Kilometer entfernt war. Einer Eingebung folgend, wiederholte Fischs Vater das Szenario, ohne den Jungen dabei in Gefahr zu bringen: Er setzte Fisch in einem Gebirgsausläufer aus, den dieser noch nie gesehen hatte, und folgte ihm dann in einiger Entfernung. Ohne zu zögern lief das kleine Kind schnurstracks nach Hause. Anscheinend konnte der Junge sich nicht verirren.
    Die zweite ungewöhnliche Eigenschaft, über die er verfügte, war sein untrüglicher Sinn für Entfernungen. Er konnte zum Horizont aufblicken und auf der Stelle die Entfernung zu jedem beliebigen Punkt in der Landschaft berechnen. Das erstaunliche Ausmaß seiner Fähigkeiten entdeckten sie jedoch erst, als er acht Jahre alt war. Während einer partiellen Sonnenfinsternis, die sie mit einigen Freunden durch getönte Gläser beobachteten, wandte sich Fischmehl an seinen Vater und stellte fest: »Interessant, wie ein Himmelskörper, der weniger als vierhunderttausend Kilometer weit weg ist, einen anderen verdecken kann, der über einhundertdreißig Millionen Kilometer entfernt ist.«
    »Wo hast du diese Zahlen her?«, fragte sein erstaunter Vater.
    Fischmehl zuckte mit den Achseln. »Hab’ ich einfach ausgerechnet.«
    Mehrere Jahre lang schlugen sie sich in ihrem kleinen Häuschen mehr schlecht als recht durch. Sie zogen Ziegen für Nahrung und Milch auf und unterrichteten Fisch über die westliche Welt, die Wissenschaften, und alles, was er aus ihrer kleinen geheimen Bibliothek lernen konnte. Seine Wissbegier war es, der er die folgenden Ereignisse zuschrieb, und derentwegen er sich die Schuld am Tod seiner Eltern gab.
    Da Fischmehl die Familienbibliothek längst durchgearbeitet hatte und in Richtungen drängte, die die Erfahrung und Ausbildung seiner Eltern überstiegen, war sein Unterricht zum Stillstand gekommen, und wie sein Bruder vor ihm, begann er rastlos zu werden.
    Aus Furcht, er könne ebenfalls der Anziehungskraft der Mudschaheddin verfallen, stahl sich Fischmehls Mutter eines Nachts fort und wanderte hundert Kilometer weit bis zu der zerstörten Stadt Herat, südlich der Berge. Es war eine alte Stadt nahe der Grenze zum Iran, die erstmals 1500 vor Christus Bedeutung erlangt hatte und seither unzählige Male zerstört und wieder aufgebaut worden war. Die jüngste Zerstörung hatte sich in den 80er Jahren ereignet, als eine Demonstration gegen die kommunistische Bewegung in der Ermordung von sechzig sowjetischen Beratern und ihren Familien eskalierte. Die Vergeltung erfolgte schnell und gründlich – ein Atomschlag hätte nicht den Schaden anrichten können, den zahlreiche

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