Der zeitlose Winter
bekannte Welt sich mit einem Mal in etwas Neues verwandelte, auf das der Schatten von etwas Altem fiel; weiter, bis die Geisterstunde vorüber war, bis tief in die Nacht hinein. Und als die Musik schließlich verklang und sich in der Luft auflöste, hob sich bereits die Sonne aus der Dunkelheit jenseits des Horizonts.
Der älteste aller Kreisläufe hatte erneut begonnen.
KAPITEL EINS
Der Kompass
Nennt mich Fischmehl.
Ein einfacher Satz – klar, präzise und verständlich. Dennoch ermunterte er alle, denen Fischmehl begegnete, unfehlbar zu einer spöttischen Erwiderung. Besonders diejenigen, die sich für Seefahrt interessierten. Und da Fischmehl so etwas wie ein Seemann war, traf das auf beinahe jeden zu. Fisch hatte nie verstehen können, warum er nur seinen Namen nennen musste, um derart hämisches Gelächter und grobe Bemerkungen zu ernten. Für gewöhnlich war von einem Kerl namens Melville die Rede und (so weit Fischmehl feststellen konnte) den Geschlechtsteilen eines Wales. Dennoch war dies sein Name und er trug ihn voller Stolz.
Hätte er mehr Zeit gehabt, abendländische Literatur zu lesen, so hätte er den Witz vielleicht besser verstanden. Es bot sich ihm jedoch nur selten die Gelegenheit, neue Bücher zu kaufen und jene, die er sich leisten konnte, waren seinen Studien gewidmet. Es war nicht leicht, auf dem Schiff einen ruhigen Platz zum Lesen zu finden, an dem er nicht von einem der Neandertaler gestört wurde, die als Deckshelfer angeheuert waren. Jede Nachfrage nach anderen Büchern hätte höchstwahrscheinlich nur noch mehr Ärger zur Folge gehabt.
Für eines war Fischmehl jedoch dankbar: War das Schiff erst einmal unterwegs und seine tägliche Putzarbeit erledigt, so blieben ihm mehrere Stunden, in denen er sich in seine private Welt zurückziehen konnte, und das über Monate hinweg. Das lag nicht etwa daran, dass das Schiff, die La Lechera (oder Milchkanne, wie die Mannschaft sie nannte), im Vergleich zu anderen Frachtschiffen übermäßig lange Routen gehabt hätte, oder aber der Antrieb nicht auf dem neuesten Stand gewesen wäre. Vielmehr machte die Fracht selbst manchmal lange, umständliche und bisweilen völlig unlogische Routen nötig. Nur selten war sie legal erworben worden. So konnte eine Reise, für die die meisten Schiffe einige Wochen benötigt hätten, für die Milchkanne vier oder fünfmal so lange dauern.
Das Schiff war ein ausrangierter kanadischer Öltanker, der in British Columbia auf Grund gelaufen und zu einer tödlichen Bedrohung für die Umwelt geworden war. Die um ihr öffentliches Ansehen besorgte Ölgesellschaft brachte er damit in eine überaus unangenehme Situation. Das Schiff war alt, seine Hülle rissig, und die Inspektionspapiere der letzten zehn Jahre hatte ein Kontrolleur genehmigt, der in Wirklichkeit der Boxterrier des Vize-Präsidenten der Gesellschaft war. Der Präsident eines etwas zwielichtigen Giftmüllentsorgungs-Konzerns, der von dem Dilemma gehört hatte und ein gutes Geschäft witterte, bot die Bereinigung der Katastrophe an. Im Gegenzug verlangte er dafür das Besitzrecht an dem reparierten Schiff, das ihm die Gesellschaft mit Freuden überließ. Erst nachdem das Schiff übergeben war, stellte die Gesellschaft fest, dass der Giftmüllentsorger selbst von mehreren Regierungsstellen juristisch verfolgt wurde – unter anderem wegen Geldwäsche – und in Wirklichkeit noch nie irgendetwas bereinigt hatte, schon gar keine Umweltkatastrophe.
Unglücklicherweise fand die Ölgesellschaft dies erst heraus, nachdem das frisch reparierte Schiff verschwunden war. Und so sah sie sich mit fünfzig Kilometern Küste konfrontiert, auf der Steine und Möwen gleichermaßen mit einem Ölfilm bedeckt waren. Es gab kein Schiff, dem sie die Schuld hätte geben können, und um ihr öffentliches Ansehen stand es noch katastrophaler als zuvor. Das generelle Urteil lautete: Jeder bekommt, wofür er bezahlt hat. Das war in diesem Fall jedoch nicht ganz richtig: Sie bekamen, was eine Gesellschaft mit überalterter Ausrüstung und gefälschten Papieren verdient hat. Und der Präsident der Giftmüllentsorgungsgesellschaft, ein Mann namens Pickering, wurde Kapitän eines Schiffs, das groß genug war, um damit so ziemlich alles schmuggeln zu können, was er irgendwo auf der Welt erwerben konnte. Er hätte gesagt: Jeder bekommt, was er sich nimmt. Bevor jedoch irgendjemand auf den Gedanken kam ihn zu fragen, befand er sich bereits mitten auf dem Atlantik.
Bei den
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